Eine Geschichte über rein gar nichts. Thomas Arndt

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Eine Geschichte über rein gar nichts - Thomas Arndt

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die vielen unausgesprochenen und unverdauten Erinnerungen, die tief in ihr verborgen lagen. Denn unabhängig von ihrer Blutsverwandtschaft konnte Susanne nicht aufhören daran zu denken, nun mit der Frau die Wohnung zu teilen, die ihr Paul vor der Nase weggeschnappt hatte. Zutiefst verletzt hätte sie ihre Cousine damals lieber in der Hölle gesehen, als sie in Pauls Armen zu wissen. Auch als das größte Herzeleid überwunden war, verursachte bereits der harmloseste Gedanke (doch solche Gedanken sind niemals harmlos!) an Tania oder Paul das Gefühl einer nahenden Ohnmacht.

      Oftmals hatte Susanne sich ihre Reaktion vorzustellen versucht, würde sie Tania, Paul oder beiden begegnen. Die Szenarien, die sie sich ausmalte, reichten von gegenseitigem Ignorieren über Grüße im Vorbeigehen, bis hin zu Wutausbrüchen. Da sie also nicht wusste, was geschehen würde, war sie umso verwunderter, was eines Tages wirklich geschah: umweht von warmer Sommerluft und umgeben vom Duft ungezählter Blumen fand sie sich wieder wie sie mit Paul auf einer grünen Wolke tanzte, leicht wie eine Feder, berauscht wie von süßem Wein, und sich windend im rasenden Takt seines Pulses.

      Danach sah Susanne Paul nicht wieder. Sie konnte sich nicht erklären, was in sie gefahren war, geschweige denn, was ihn dazu gebracht hatte, zu tun, was sie gemeinsam getan hatten. Ohne eine Entschuldigung zuzulassen, führte sie sich vor Augen, dass sie und Paul Tania betrogen hatten. Fassungslos stellte sie fest, dass es nicht einmal etwas gegeben hatte, was sie als Grund, Ursache oder Auslöser dieses Geschehnisses hätte bezeichnen können. Es war einfach passiert; es hätte nicht sein müssen. In welche Richtung auch immer Susanne ihre Gedanken lenkte, sie fand keine zufriedenstellende Erklärung. Das war doch nicht sie gewesen, wunderte sie sich, so etwas hatte sie noch nie getan. Und doch wurde sie von einer wundersamen Mischung aus Entsetzten und Staunen gepackt, sobald ihr die Leichtigkeit dieser Nacht aus den Nebeln ihrer Gedanken ins Bewusstsein trat; eine Leichtigkeit, in der sie Spuren von Gleichgültigkeit, Verdrängung und Egoismus entdeckte, in der sie daneben aber auch Verlangen, Sehnsucht, Lust und Leidenschaft sah.

      In dem Maße, wie sich eine Freundschaft zwischen ihr und Tania entwickelte, entzog sich ihr die Möglichkeit, über das Geschehene mit ihrer Cousine zu sprechen. Schon bald war es für eine Beichte zu spät. Die Tania, die Susanne nun vor sich hatte, glich nicht mehr derjenigen, die sie mit ihrem Freund betrogen hatte. Schnell fand sie die Vorstellung absurd, den Fehltritt zu offenbaren. Nichts passte mehr zusammen, nichts ergab noch einen Sinn. In ihren Gedanken war sie die zugunsten einer anderen Verstoßene, die sich rächte, indem sie den begehrten Mann verführte (dabei hatte sie ihn gar nicht verführt!); sie dachte an Tania und sah in ihr die Ursache ihres Unglücks, die ihr den Mann entrissen hatte, ohne dass sie das gewusst hatte, denselben wieder verließ und ausgerechnet bei ihr Zuflucht suchte, nicht wissend, betrogen worden zu sein; und sie dachte an Paul und warf ihm vor, ihre Gefühle verletzt zu haben, da er, wenn er nicht geradezu ein Tölpel war, hätte spüren müssen, dass sie etwas für ihn empfand; und ganz und gar nicht konnte sie verstehen, warum er, nachdem er sich offensichtlich für sie zu interessieren begonnen hatte, ihr ohne Weiteres eine andere vorzog.

      In diesen Gedanken hätte sich Susanne um ein Haar stranguliert. Sie drehte sich im Kreis und wusste, dass der einzige Ausweg darin bestand, mit allen Beteiligten ein klärendes Gespräch zu führen. Davor aber schreckte sie zurück, denn schließlich war Paul vergessen und Tania wurde mehr und mehr zu einer Freundin. Durch sie sollten die Ereignisse dieser Nacht folglich nicht ans Tageslicht kommen.

      Merkwürdig ist das alles, dachte Susanne von Zeit zu Zeit. Bei solchen Gelegenheiten versuchte sie sich die Frage zu beantworten, ob sie Tania wirklich nur habe einziehen lassen, weil sie Cousinen waren. Im Grunde genommen waren sie quitt, meinte sie manchmal. Ein anderes Mal kam ihr jedoch der Verdacht, dass sie ihr das WG-Zimmer verschafft hatte, weil die Nacht, in der sie und Paul eins waren, mit der Schwere einer Sünde auf ihrem Gewissen lag. Sie wollte das Geheimnis zwar nicht lüften, doch war es ihr ein Bedürfnis, ihrer von ihr betrogenen Cousine im Stillen zu helfen. Vielleicht war es tatsächlich Mitleid, sagte sie sich dann und wann erstaunt.

      Doch auch dieser Gedanke stiftete nichts als Verwirrung. Wer hatte denn mit ihr Mitleid gehabt? Und wie stand es um Paul? Hatte Tania ihn nicht ohne jede Erklärung verlassen? Wie fühlte er sich? Aber hatte er Mitleid verdient? Hatte Tania Mitleid verdient? Hatte sie Mitleid verdient? Schluss damit!, sagte sie sich. Es hatte keinen Sinn, derart darüber nachzudenken. Instinktiv spürte sie, dass sie es anders angehen musste, um zu vernünftigen Gedanken zu gelangen. Doch hatte sie keinerlei Vorstellung davon, wie das zu bewerkstelligen war, wurde doch ihre Denkweise durch die von all diesen Ereignissen hervorgerufene Sicht begründet, die nur schwerlich eine andere zuließ. Gefangen zwischen unregelmäßig wiederkehrenden Gewissensbissen und einer stets inniger werdenden Verbundenheit gegenüber Tania, wusste Susanne sich keinen besseren Rat zu geben, als zu sehen, wie es weitergehen würde.

      *

      Nach so vielen Jahren zum ersten Mal über ihre Vergangenheit zu reden, öffnete eine Schleuse in Tanias Seele, durch die sich eine Schlammlawine einen Weg bahnte und all das mit sich riss, was sie eben noch daran gehindert hatte, unbefangen mit ihren Mitmenschen umgehen zu können. Nachdem sie sich von der Last all dieses Unrats befreit wusste, putzte sie gründlich ihr Zimmer, in dem es ärger roch als auf einem mit Gülle gedünktem Feld, entsorgte die verdorrten Pflanzen, die allesamt den Pesthauch nicht überstanden hatten und dankte dem Himmel, dass niemand in der Wohnung war, als es passierte. Als sie ihr Zimmer vom gröbsten Dreck befreit hatte, musste sie einsehen, dass sich nicht alle Spuren würden beseitigen lassen. Deshalb entschied sie, den Wänden einen neuen Anstrich zu verpassen, ihre Möbel durch neue Farben etwas aufzufrischen und neue Vorhänge für beide Fenster zu besorgen. Außerdem fehlte noch ein Teppich auf dem kalten Boden und neue Pflanzen, auch brauchte sie Bilder für die Wände, ein paar schicke Accessoires, Bettwäsche, einen kleinen Fernsehapparat vielleicht und Kleidungsstücke aller Art.

      Im Spiegel, der ganz in die Nähe der Tür hing, reflektierte die Abendsonne nach getaner Arbeit und tauchte den nicht wiederzuerkennenden Raum in ein angenehm warmes dunkelrotes Licht. Als Tania das letzte Staubkörnchen dem Staubsauger zu sicherer Verwahrung überantwortet hatte, als sie sich und ihr vom Schmutz befreites Zimmer zufällig im Spiegel sah, bemerkte sie beeindruckt, wie die Behaglichkeit ihres neuen Zuhause sich daran machte, die freigelegten Gletscher abzutauen, die unter dem Schlamm gelegen hatten und nun zu Tage gefördert vor ihren Augen lagen.

      Das erste Eis schmolz durch die stundenlangen Gespräche mit ihrer Cousine. Einen bis dato unbekannten Impuls folgend, der ihre Zunge wie durch Wunderkraft entkrampfte, fühlte sie sich von diesem merkwürdig schönen Gefühl durchströmt, dass man spürt, wenn man sich beachtet und verstanden glaubt. Für Tania war es nichts anderes als ein schwieriger Lernprozess. Und hätte sich dieser Impuls verbunden mit ersten, wenn auch noch geringen angenehmen Erfahrungen nicht zu einem regelrechten Antrieb entwickelt, der förmlich dazu zwang, immer wieder das Gespräch zu suchen, wäre sie noch längst nicht im Stande, all die Veränderungen zu durchlaufen, die gerade ihr Leben bestimmen und die sie die Welt sehen lassen, wie sie sie bisher nicht gesehen hatte.

      Es dauerte nicht lange und Tania pflegte zu ihren beiden männlichen Mitbewohnern ein nahezu ebenso freundschaftliches Verhältnis wie zu Susanne. Doch kaum hatte sie sich in ihrem neuen Zuhause eingelebt, wurde sie von einer ihr unbekannten Neugier schon nach draußen gezogen. Gelockt vom Treiben auf den Straßen fühlte sie das Bedürfnis aufsteigen, inmitten Unbekannter ziellos durch die Stadt zu streifen. Nicht, dass sie noch einmal bereits wiederentdeckte Relikte ihres bisherigen Lebens aufsuchen und erkunden wollte, auch kam es ihr nicht darauf an, die Stadt, die sie ohnehin zur Genüge kannte, noch einmal zu erforschen und kennenzulernen. Wichtig war einzig die Gegenwart anderer Menschen, mit denen sie die Gehwege teilen musste, in die Schaufenster der Läden blickte, oder beim Gemüsehändler auf dem Markt Obst kaufte. All diese Menschen erregten ihr Interesse, wie ihr verwundert auffiel. Plötzlich erschienen sie ihr wie potentielle Freunde. Erhobenen Hauptes schritt sie ihnen entgegen und atmete die selben dreckigen Ausdünstungen in ihre Lungen. In ihr wuchs das Gefühl, dass sie dazuzugehören begann. Eine von ihnen würde sie bald sein und nicht länger

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