Eine Geschichte über rein gar nichts. Thomas Arndt
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»Nun gut. Dann werde ich dir mal eine Frage stellen: Kommt es dir nicht auch so vor, als würden die Frauen immer mehr zu Männern werden?«
»Was?«, rief Paul verblüfft aus und hatte Mühe, sich das Lachen zu verkneifen. »Wie soll ich mir das denn bitte schön vorstellen?«
Und Robert antwortete: »Von ihrem Verhalten aus betrachtet natürlich! Was hast du denn geglaubt? Ihre Körper habe ich jedenfalls nicht im Sinn.«
»Ja wirklich?! Und ich dachte schon . . . Aber was in ihrem Verhalten ist denn so männlich?«, wollte Paul wissen und drängte auf eine Antwort. Lange starrten sie sich an: Paul, auf eine Erklärung wartend und Robert, nicht sicher, ob er nicht bereits viel zu viel gesagt hatte.
»Weißt du was, Paul? Im Grunde genommen wäre es besser, wenn ich dir nichts weiter sage und du endlich beginnst, dir Gedanken zu machen, wie du mit den Mädels umgegangen bist und wie Tania dich nun behandelt. Du könntest noch andere Frauen in deine Überlegungen und Vergleiche einbeziehen und außerdem solltest du dir überlegen, wer du eigentlich bist und was du willst. Ja, ja! Ich sehe schon den Protest in deinen Augen. Nimm es mir nicht übel! Ich meine es nicht böse, auch wenn es dich in deinem Innersten trifft, weil ich dir vorwerfe, dass du nichts von dem verstehst, was vor sich geht und das auch noch auf Frauen bezogen ist. Ich verstehe das. Das kann kein Mann einfach so hinnehmen. Aber trotzdem bitte ich dich, erst einmal darüber nachzudenken. Also über Frauen und so. Ich muss dich vermutlich nicht daran erinnern, wie viele dir von Tania abgeraten haben. Jetzt ahnst du vielleicht warum und es könnte für dich der Antrieb sein, über alles nachzudenken und zwar aus einem anderen Blickwinkel, nicht aus dem, durch den du schon immer die Welt gesehen hast . . . Ich weiß! Es fühlt sich nicht gut an, wenn man sich klar zu machen versucht, dass man so viele Dinge, mit denen man tagtäglich konfrontiert wird, nicht wirklich versteht, jedenfalls ging es mir so, soviel kann ich dir sagen. Aber wenn man sich mit sich selbst und vielen anderen Dingen erst einmal gründlich auseinandergesetzt hat, dann hat man vielleicht auch etwas dabei gelernt. Verstehst du, was ich dir sagen will, jedenfalls so ungefähr?«
»Ich glaube ja.«, antwortete Paul mit unsicherer Stimme und log, weil er nicht darauf aus war, noch einmal Roberts wirren Gedanken folgen zu müssen.
»Gut! Dann tue dir den Gefallen und denk über das eine oder andere nach. Fang alleine an, das wird besser sein. Denn was hätte es für einen Nutzen, wenn ich dir sage, was ich von Diesem und Jenem halte. Ich würde dir nur meine Gedanken und Denkweisen einimpfen. Du bist aber nicht ich und ich habe meine Gründe, zu denken, was ich denke und wie ich es denke. Du aber wirst einen eigenen Weg gehen müssen und wenn du es tatsächlich geschafft hast, wenigstens einen Anfang zu finden, dann können wir darüber reden, was vor einigen Tagen geschehen ist.«
*
Robert: als die Worte zu leben begannen, stachen sie mir mitten ins Herz. Und als ich den Schmerz bewahren wollte, verließ er mich . . . für immer. Nur ein Nichts von mir blieb zurück, in einer kalten Hölle ohne Sinn. So bewegungslos das Leben, nur die Stille blieb sie selbst. Tausend Foltern, die nicht mehr quälten. Immer während verging die Zeit. Die vielen Arten, auf die ich nicht schrie, stauten noch mehr Worte in mir auf. Klarstes Verständnis betrübt vollkommen, formt aus Unwahrheiten nichts als Zweifel, erschafft aus freiem Willen Einsamkeit, baut mir eine neue Welt. Unvergleichlich ist diese Leere. Noch nie gesehen solch hohe Mauern. Eingesperrt oder ausgeschlossen? Irgendetwas hat diese Frage verschluckt . . .
Robert: Daneben
*
Robert: und niemand könnte die Frage beantworten, wie er eines Tages in Pauls Freundeskreis geraten war. Damals schon vollzog sich eine tiefgreifende Veränderung in ihm, die er zwar selbst ausgelöst hatte, jedoch schon bald nicht mehr beeinflussen, geschweige denn kontrollieren konnte.
Robert: Sohn eines Vaters, der zwar ein gutes Händchen fürs Geschäft, nicht aber für Frauen hatte. Sohn einer Mutter mit guten Händen fürs Geschäft, solange dies auf Männer bezogen war.
Eine der frühesten Kindheitserinnerungen, die er niemals vergessen sollte, waren Worte, die sein Vater einer Litanei ähnlich ständig wiederholte, nachdem die Mutter ihre Koffer gepackt und die Familie verlassen hatte: »Heirate niemals die Erstbeste, Junge! Niemals! Hörst du!«
In einem Aufsatz setzte Robert mit einer Virtuosität auseinander, die man von einem Fünftklässler nicht erwarten konnte, warum ein Mann sich hüten sollte, überhaupt jemals zu heiraten. Die Lehrerin, die über die Familienverhältnisse im Bilde war, vermutete zu Recht, dass der Vater hinter den Gedanken des Jungen steckte und wies ihn und dadurch seinen Vater zurecht. Sie schärfte ihm ein, nicht viel von Frauen zu verstehen und betonte, dass man von einer nicht gleichsam auf alle schließen könne.
Robert fühlte sich missverstanden und versuchte sich verständlich zu machen. Seine Lehrerin beharrte jedoch auf ihrer Ansicht und ließ eine Richtigstellung nicht zu. Indem sie Vater und Sohn gleichermaßen tadelte, fühlte sich Robert ob dieser ungerechten Behandlung noch stärker seinem Vater verpflichtet. Mehr noch: die Lehrerin wurde zum perfekten Exempel und Experimentierfeld einiger nicht immer ernst gemeinter Äußerungen seines Vaters, der, obwohl seine Frau ihn sitzen gelassen hatte, weder seinen Humor verlor, noch die Liebe zu den Frauen. Doch Roberts Vater, oft bis in den späten Abend und auch an den Wochenenden mit seinen Geschäften befasst, bemerkte nicht, dass sein Sohn seine Worte ernster nahm, als gut gewesen wäre.
Schließlich erreichte Robert das Alter, in dem er sich für Mädchen zu interessieren begann. In dem Maße, wie er von den dunklen, geheimnisvollen Augen einer Mitschülerin angezogen wurde, traten die Unmittelbarkeit seines Vaters und all die Worte sowie die Ratschläge, die er seinem Sohn jemals in Puncto Frauen gegeben hatte, in den Hintergrund. Erst viel später, als er bereits studierte, als weitere Erfahrungen sein Denken und Empfinden beeinflussten und veränderten und er genau das tat, was er Paul eben erst geraten hatte, nämlich sich mit sich selbst und seinen Mitmenschen auseinanderzusetzen, begegnete er den Einflüsterungen seines Vaters in einem Winkel seines Geistes wieder, wo er sie nicht vermutet hätte. Ungewollt vermischten sie sich mit der Wirklichkeit, in der er lebte, und legten sich wie ein Filter auf seinen Blick. Obwohl sein Leben nicht das seines Vaters war, obwohl Vater und Sohn zwei ganz und gar verschiedene Menschen waren, mengte sich auf diese Weise ein kleiner, jedoch bedeutender und – wie sich herausstellen sollte – äußerst einflussreicher Teil der väterlichen Persönlichkeit, des väterlichen Charakters und der väterlichen Ansichten in Roberts Persönlichkeit und Leben.
Als ihm dies bewusst wurde, setzte er alles daran, diesen Überbleibseln längst vergangener Zeiten nicht allzu viel Zeit und Raum in seiner geistigen Welt zu überlassen. Obschon das Verhältnis zu seinem Vater durch nichts belastet war, wollte er lieber seine eigenen Gedanken denken und sein eigenes Leben leben. Er fühlte sich alt genug, um auf eigenen Beinen zu stehen. Sein Vater hatte sich lange um ihn gekümmert, doch nun war er den Kinderschuhen entwachsen.
Zu diesem Zeitpunkt stieß Robert auf ein ernsthaftes Problem, das nur sehr schwer verständlich zu machen ist. Es resultierte aus Spannungen, die unmöglich in Worte gefasst werden konnten: einerseits lebte er sein Leben genauso, wie er es sich vorstellte, ungeachtet all dessen, wodurch er beeinflusst wurde; andererseits waren gerade diese Einflüsse die Ursache dafür, dass er immer wieder auch die Eigenschaften und Gedanken, die er für seine individuellsten hielt, bei anderen Menschen entdeckte. Er erkannte, dass sein eigenes Leben, ja seine eigene Person, die er für absolut einmalig und unvergleichbar hielt, kaum wirkliche Unterschiede zu anderen Menschen und