Eine Geschichte über rein gar nichts. Thomas Arndt
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Dennoch war es nichts anderes als Liebe, die Robert bei Jasmin gesucht und bei Anja nicht gefunden hatte, der er aber weiterhin nachstellte. In diesem Licht betrachtet erscheint seine erste, nur wenige Monate dauernde Beziehung in der Tat nur als eine kurze, folgenlose und unbedeutende Episode, der keinerlei Bedeutung beizumessen ist – wie jedenfalls Robert dachte. Doch er irrte sich. Und in diesen Irrtum verfiel er, da er nach dieser Beziehung ohne zu zögern die Liebe als solche idealisierte und ihr einen Wert beimaß, den die durch einen Kuhhandel zustande gekommene Liaison mit Anja freilich nicht aufweisen konnte. Durch Anja gelangte er in den Besitz des nötigen Rüstzeugs, um seinen zukünftigen Erfolg bei Frauen zu sichern. Er lernte, wie man mit ihnen umgeht: wie man sie küsst, berührt, spricht, aufs Bett legt, auszieht, wieder berührt und überredet, bestimmte Dinge zu tun.
Robert idealisierte also die Liebe. Nur darf man sich nicht allzu viel darunter vorstellen. Im Grunde genommen handelte es sich lediglich um ein Gefühl, das irgendwo in ihm heranwuchs, größer und stärker wurde und ein nahezu grenzenloses Verlangen im Schlepptau hatte, dass den sich zu einem Mann entwickelnden Jüngling zu allen möglichen Mädchen hinzog. Robert suchte Liebe und kein Individuum. Sein Ideal fand er in den Gesichtern hübscher Mädchen.
Robert machte Bekanntschaft mit vielen jungen Frauen, die meist schneller als er dahinter kamen, dass er nicht sie suchte, sondern etwas ganz anderes, worüber sie sich jedoch bis auf wenige Ausnahmen keinen Reim machen konnten. Oft ertrugen sie nicht, dass er ihnen nicht viel mehr als das Gefühl gab, von ihnen enttäuscht worden zu sein. Sie verließen ihn in Scharen und Robert bedauerte es nicht, wurde ihm dadurch doch bewiesen, dass er die Liebe bei ihnen nicht finden könne. Und diejenigen, die ihn wirklich liebten, wurden über kurz oder lang von ihm verlassen. Es war einfach nicht möglich, ihn so zu lieben, wie er es sich vorstellte.
Ein ums andere Mal sah Robert seine idealisierte Liebe nicht angemessen erwidert. Von Zeit zu Zeit kam ihm der Gedanke, dass er sich womöglich falsche Vorstellungen machte. Er ging in sich und versuchte endlich die Worte zu finden, die auszudrücken vermochten, was er wirklich fühlte. Doch bis auf wenige scheinbar passende Phrasen wollten sich keine Erfolge einstellen. Es half ihm auch nicht, darüber mit Freunden zu diskutieren, und auch die Mädchen, denen er sein Herz zu öffnen bereit war, verstanden ihn nicht und brachten ihn nicht weiter.
Je länger er jedoch seiner ominösen Idee der Liebe hinterher jagte und je weniger er sie zu fassen bekam, desto stärker wuchs sie heran und beanspruchte das Königreich seines Herzens exklusiv für ihre uneingeschränkte Regentschaft. Obwohl Robert das entstehende Missverhältnis zwischen seiner ständig unfassbarer werdenden Vorstellung der Liebe auf der einen Seite, und der Belagerung und Einnahme seines Herzens durch dieselbe auf der anderen Seite nicht verborgen blieb, fand er keinen Ausweg aus diesem Dilemma. Und es wurde noch schlimmer: regelrecht versklavt durch diese Liebes-Idee, die sich in ihm eingenistet hatte und aus seinem Herzen langsam eine Schlangengrube machte, verlor er nach und nach die Fähigkeit, eine andere Liebe, die Liebe anderer Menschen, anzuerkennen.
Sprosse um Sprosse erklomm er eine Leiter der Enttäuschungen. Jede Sprossen symbolisierte eine Frau. Stufe um Stufe verweilte er kurz und prüfte, ob er nicht die Liebe finden könnte, nach der ihm so sehr verlangte: eine selbstverständliche, bedingungslose, an nichts gebundene Liebe; eine durch nichts als sie selbst hervorgebrachte Liebe; eine Liebe so voraussetzungslos, tief und unergründbar wie die Liebe zweier smaragdgelber Kartoffelackerweizenfeldsteine und genauso unerklärbar und geheimnisvoll. Doch wie sollte er solch eine Liebe erkennen?
Dann, als ihm das Wesen der Vorstellung seiner Art der Liebe zumindest teilweise klar wurde, stöhnte und seufzte er resignierend in einen Windhauch, der rein zufällig gerade in der Nähe war, ihn umwehte, und der, ob er wollte oder nicht, diese verzerrten Klänge, Töne, oder was auch immer für Geräusche das waren, mit sich in die Ferne trug. Denn Robert hatte erkannt, dass das, was er für seine Liebe hielt, weder Augen, noch Stimme, noch Ohren besaß: sie sah nicht und wollte nicht gesehen werden, sie sprach nicht und wollte nicht angesprochen werden, sie hörte nicht und wollte nicht angehört werden.
Das also ist die wahre, reine Liebe, sinnierte er eines schönen Tages, die sich getrennt, losgelöst, befreit hat vom Geschwätz der Allgemeinheit, von all den Dummheiten, die jemals über sie gedacht, gesagt, oder geschrieben worden sind, und die von allen sie nur unzureichend beschreibenden, charakterisierenden und auch intentional verwendeten Begriffen, die die Menschheit jemals verwendet hat, um ihr beizukommen, doch nicht erfasst, erklärt, oder gar korrumpiert werden kann. Wenn man das Wesen der Liebe erkannt hat, sagte sich Robert an diesem schönen Tag, dann hat man gar nichts verstanden, und man hat alles verstanden, wenn man rein gar nichts verstanden hat.
*
Wie verwirrend Roberts Gedanken auch gewesen sein mögen, sie sind gerechtfertigt, weil sich vermutlich jedes heranwachsende Menschenkind Gedanken über die Liebe macht. Und Robert tat nichts anderes. Oder doch? Ja, vielleicht . . . aber nur vielleicht . . . und ich muss gestehen, ich bin mir nicht sicher. Schon längst ist mir der leise Verdacht gekommen, dass es gar nicht Robert war, der zu verstehen versuchte, wie seine Liebe beschaffen war. Hin und wieder kommt mir der Gedanke, dass Roberts Liebe auf der Suche nach ihrem Wesen ihn dazu benutzte, sich zu erkennen. Vielleicht erinnern Sie sich an Pauls Seele, die, um sich der schwersten Last für den Moment zu entledigen, ihn als Werkzeug benutzte, als Mittel zum Zweck, der – in diesem Augenblick nicht Herr über sich selbst – nicht wusste, was er tat, einen Befehl ausführte, den er als solchen nicht einmal erkannt hatte, einen Stift nahm und siebenundzwanzig Worte in vier Versen zu Papier brachte.
Dieser Vergleich verdeutlicht die Vermutung, Roberts Liebe habe ihn für sich auserkoren, kontrolliere ihn, beherrsche ihn, zwinge ihm ihr Wesen auf, habe ein Eigenleben entwickelt, sich verselbständigt, sei sozusagen autonom, unabhängig, frei, stärker und mächtiger als er; zufällig ausgerechnet in ihn hineingelangt (unbemerkt, heimtückisch vielleicht, hinterhältig, auf jeden Fall im Verborgenen), hauste sie nun in seinem Herz, nistete in seiner Seele . . .
. . . die Liebe die Liebe die Liebe . . . und Robert brauchte Jahre, bis er verstand, bis er seine Liebe verstand, sein Leben, also sich selbst, und es ihm gelingen sollte, vor einen Spiegel zu treten, sich zu betrachten und plötzlich in eine Metapher verwandelt zu sehen, für die er den wunderschönen Namen daneben fand. Aber bis dahin ist noch so viel Zeit . . . muss noch so viel geschehen . . . muss ein Satz (Heirate nicht die Erstbeste!) aus den Tiefen der Vergangenheit den Weg zurück zuerst in sein Gedächtnis finden . . . dann in sein Bewusstsein . . . muss immer wieder gedacht werden . . . muss weitere modrige Fetzen toter Augenblicke ins Jetzt zurückholen . . . stinkende Sekunden aus dem gurgelnden Morast grünschimmernd verwesender Ereignisse in den Schlamm des Heute ziehen . . . was niemand jemals wollen kann . . . auf das sich vermischen und untrennbar vereinigen zu einem abscheulichen Gebräu die Erinnerungen des Kindes und die ungewollten Erfahrungen des Heranwachsenden und die desaströsen Erkenntnisse des Robert, der sagte, die Prinzen seien bei den Prinzessinnen . . . des Robert, der vor lauter Liebe nicht bemerkt hatte, wie seine wahre, tiefe . . . wie die eine einzige Liebe sich in saure Milch verwandelte, gelb in seine Augen spritze und so für immer seinen Blick verdarb . . . ja die Liebe die Liebe die Liebe die ungeliebte Liebe . . . unerwidert . . . unverstanden . . . un . . . un . . . un . . . (Vorsilben enthalten bisweilen mehr als einen Hinweis auf die potentielle Grausamkeit der ihnen anhängenden Worte)