Schlimme Zeitreise in eine barbarische Vergangenheit. Marie Eleonore
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Als sie dann doch neugierig war, beschloss sie, sich auch zu dieser Menschenmenge hinzustellen. Da auf einmal traf sie fast der Schlag. Jetzt sah sie es, um wen die Leute herumstanden und aus welchem Grund. Es war Zwillikowsky, der heute offenbar hier auf diesem Platz eine Wahlrede hielt. Reden hatte ihn Karin Kawinsky bisher noch nicht gehört, deshalb blieb sie stehen und hörte diesem Mann zu, was er zu sagen hatte.
Doch je mehr sie ihm zuhörte, desto mehr kamen ihr auf einmal Zweifel, ob dieser Mann wirklich der Richtige war. Denn so einfache Patentlösungen, die er für alles hatte, das war doch ein wenig zu einfach für sie. Sie hatte nämlich bemerkt, wenn ihm jemand Fragen stellte, wich er, so gut er konnte, diesen aus. Er äußerste sich nie direkt dazu, sondern sprach nur um die Sache herum. So, z.B., als es darum ging, wie er es gedenke, die russische Wirtschaft wieder auf Vordermann zu bringen? Auf diese Frage gab er die Antwort, man müsse halt die vielen Fremden, die sich in diesem Land breit machen würden, um anderen die Arbeit wegzunehmen, außer Landes verweisen. Aber sonst hatte er eigentlich keine richtige Lösung des Problems parat. Einige Male waren es die Ausländer, die an allem schuld waren, das andere Mal die Mafia und die Verbrecher, aber eine richtige Lösung, die hörte eigentlich von ihm heute keiner. So wie man im Großen und Ganzen hier vernahm, waren es eigentlich immer die anderen, die an allem schuld waren. Er versprach auch noch allen Leuten, dass wenn er gewählt werden würde, er alle Verbrecher an die Wand stellen lassen würde und somit würde wieder Ordnung in diesem Land herrschen.
Da die meisten Leute einfache Lösungen für Probleme gut hießen, hatte er auch heute mit dieser Menschenmenge, die sich um ihn versammelte, leichtes Spiel und er sah es Diesen bestimmt schon an den Augen an, dass sie ihn wahrscheinlich wählen würden. Doch der Ausdruck in Karins Gesicht wurde nach dem eben Gehörten immer kritischer. Das aber schien dieser Zwillikowsky zu bemerken. Denn es waren nur ungefähr 100 Leute, die sich hier versammelt hatten. So konnte man schon noch den einzelnen ein wenig erkennen und beobachten. Scheinbar war ihm ihr kritisches Gesicht aufgefallen. Denn sie war sich ja wirklich nicht mehr sicher, sie hielt eigentlich nach dieser Rede gar nicht mehr so viel von ihm. Dieser Mann hatte nur starke Sprüche parat, aber an wirklichen Lösungen der Probleme schien er doch gar nicht so interessiert zu sein. Aber an Einem war er ganz bestimmt interessiert, nämlich die Wahl zu gewinnen. Denn mit Wahlplakaten und anderen Dingen hatte er ganz schön Propaganda gemacht. Also auf jeden Fall sah er es ihr an, dass sie nicht ganz zufrieden war mit seiner Rede. Denn dieser Typ hatte eigentlich eine gute Menschenkenntnis, das musste man ihm lassen. Deshalb sprach er sie auch plötzlich an. Sie bemerkte gar nicht gleich, was los war, so sehr war sie in Gedanken versunken. Sie musste sich erst von den anderen Leuten um sie herum anstoßen lassen, bis sie endlich bemerkte, was Zwillikowsky von ihr wollte.
Als Karin endlich begriff, dass sie gemeint war, dachte sie zuerst, sie würde in Ohnmacht fallen. Was sollte sie jetzt darauf antworten. Aber sie musste doch was sagen, denn Zwillikowsky hatte sie gefragt, ob sie mit einigen Dingen hier nicht ganz einverstanden wäre. Und wenn sie schon so gefragt wurde, konnte sie ja nicht einfach lügen und so tun, als wäre alles in Ordnung. Sie gab diesem Zwillikowsky deshalb zu verstehen, dass es ihr nicht gefiele, dass er auf alles eine viel zu einfache Antwort haben würde. Dieser Typ versuchte aber, ständig auf sie einzureden. Man merkte eigentlich, er war nur an seinen eigenen Sprüchen interessiert und hatte für alles eine passende Antwort parat, aber auf wirklich kritische Fragen wollte er offenbar nicht so richtig eingehen.
Da Zwillikowsky nach einer Weile bemerkte, dass diese Frau doch nicht so einfach wie die anderen zu beeindrucken war, gab er ihr einen einfachen Ratschlag. Sie sollte ihn einfach wählen, dann würde sie schon merken, dass er der Richtige sei. Das war an sich nichts Neues, das sagten sie schließlich alle.
Aber irgendwie spürte Karin, dass an diesem Typ doch nichts so war wie bei allen anderen, aber sie konnte es sich nicht erklären, noch nicht. Auf jeden Fall gab sie es dann auf, noch weitere Fragen zu stellen. Aber eines hatte dieser Typ heute geschafft, nämlich bei ihr so etwas wie Kritik zu wecken. Ihm würde es natürlich weniger gefallen, das war klar. Karin Kawinsky hatte außerdem noch vor, ihren Stadtbummel fort zu setzen und löste sich alsbald von der Menschenmenge. Diese standen aber noch immer um diesen Typ herum und glaubten wahrscheinlich kritiklos seine Sprüche. Auf jeden Fall schwor sich Karin, heute abend ihrem Mann von dieser Rede zu erzählen, denn dieser Typ war ihr nicht mehr sympathisch. Sie hatte ja vorher noch nie direkt mit Diesem Bekanntschaft gemacht. Aber das heute reichte ihr fürs Erste. Wahrscheinlich würde sie doch einen anderen Kandidaten wählen.
Wie gesagt, Karin stahl sich von dieser Massenversammlung schließlich davon, aber sie bemerkte, dass ihr dieser Zwillikowsky einen unangenehmen Blick hinterher warf. Sie tat aber so, als bemerke sie dies nicht und ging.
So sehr sich auch Karin auf den Stadtbummel von heute konzentrieren wollte, es gelang ihr einfach nicht so recht. Sie musste immer wieder an das Geschehene von vorhin denken. Und als sie eine Weile später wieder an diesen Platz vor dem Kaufhaus Gum in Moskau zurückkam, sah sie dann aber niemand mehr. Die Massenkundgebung war anscheinend beendet. Und von diesem Zwillikowsky war auch nichts mehr zu sehen. Sie wusste aber aus Fernsehberichten, dass er hier ganz in der Nähe sein privates Appartement hatte.
Als sie sich jetzt vergewissert hatte, dass sich hier nichts mehr abspielte, beschloss sie mit der Metro nach Hause zu fahren. Aber als sie einstieg, glaubte sie wirklich ihren Augen nicht mehr zu trauen, denn sie sah diesen Zwillikowsky in einem Abteil sitzen. Sie versuchte irgend woanders sich hinzusetzen, aber der Zufall wollte es, dass hier alles voll war, und so musste sie gar nicht weit von Zwillikowsky entfernt Platz nehmen. Es lag zwischen ihr und dem Präsidentschaftskandidaten nur ein Abteil, aber man konnte hindurch sehen. Zum guten Glück las dieser Zwillikowsky eine Zeitung und sah sie gar nicht gleich. Karin versuchte sich so unauffällig wie möglich zu verhalten, sie wagte nicht einmal mehr sich richtig zu bewegen. Aber schließlich legte Zwillikowsky die Zeitung beiseite, nachdem er sie gelesen hatte und schaute um sich herum. Wenn das noch eine Weile so ging, würde er sie noch erkennen. Und ganz genau, so war es dann auch. Sie sah es ihm sofort am Gesichtsausdruck an, dass er sie erkannt
hatte. Der Blick, den er ihr zuwarf, war alles andere als freundlich. Denn Zwillikowsky konnte es nicht leiden, wenn er spürte, dass jemand gegen ihn war. Und diese Frau war gegen ihn, das spürte er. Karin war deshalb froh, als ihre Station zum Aussteigen kam