Was zu beweisen wäre. Jürgen Heller

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Was zu beweisen wäre - Jürgen Heller

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sie, besonders als sie es ablehnt, dass er sie besucht, um den Krankenpfleger zu spielen. Das ist so ein Punkt, der sie nervt und wo sie immer wieder in Zweifel gerät, ob das Verhältnis zwischen ihnen eigentlich das ist, was sie sich wünscht. Bruno ist sicherlich ein Pfundskerl, im wahrsten Sinne des Wortes. Er ist zuverlässig und hilfsbereit, wo immer es geht. Aber gerade das erdrückt sie manchmal, dieses immer-für-sie-da-sein, diese übertriebene Fürsorge. Ob es am Altersunterschied liegt? Immerhin ist er über zehn Jahre länger auf dieser Welt als sie. Wenn sie zusammen sind, merkt sie nichts davon. Dazu ist er zu selbstbewusst, ohne eingebildet zu wirken und hat sich darüber hinaus etwas jungenhaftes, verrücktes bewahrt, trotz seiner 60 Jahre. Er ist geprägt durch seine Erziehung, seine Schul- und Studienzeit und eben seinem Leben in diesem Nachkriegsberlin. Natürlich hat er sich in den Jahren auch angepasst, steht aber immer noch zu seinen alten Idealen, im Gegensatz zu vielen seiner früheren Freunde, die die roten Fahnen gegen die Lifestyle-Symbole der Bildungsbürger eingetauscht haben, denen der wichtigste Rote Stern inzwischen der des geschätzten Mailänder Mineralwassers ist. Er hingegen ist noch nie den Oberschlauen gefolgt, bis heute nicht, hat immer seinen eigenen Kopf benutzt, braucht deshalb heute auch nichts rechtfertigen und keine neuen Standpunkte erklären. Das mag sie an ihm, auch, dass er die Dinge immer auf das wesentliche reduzieren, auf den Punkt bringen kann. Sicher hängt es auch mit seinem Beruf zusammen. Als Ingenieur ist er gewohnt, zu recherchieren, zu analysieren und methodisch zu agieren. Er beherrscht die Kunst der sachlichen Argumentation und ist jederzeit in der Lage, Rationalität von Emotionalität zu trennen. Im Prinzip tut er ihr gut, auch wenn er nicht da ist. Sie nimmt sich vor, ihm das bei Gelegenheit einmal zu sagen.

      Inzwischen hat sie schon dreimal die Nummer ihres Vaters gewählt, keine Reaktion. Mama hat kein Handy. Sie schaut auf die Uhr über dem Kamin, eine alte italienische Wanduhr, die sie von ihrer Tante geerbt hat. Die Tante lebt noch, hat aber fast alles, was sie besitzt, an ihre Erben verschenkt. Sie wünscht Kontrolle darüber haben, dass wirklich alle das bekommen, was sie will. Und sie will keinen Streit darüber. Außer der Uhr stammen noch einige Möbelstücke und das gesamte Geschirr von Tante Giuliana.

      Carla überlegt, ob sie im Hotel anrufen soll, es scheint ihr aber noch zu früh. Ihre Eltern steigen seit Jahrzehnten immer im "Monte Cristallo" ab, einem kleinen aber sehr gepflegten Haus mit nur 20 Betten. Dafür gibt es eine hervorragende Küche nur für Hotelgäste und die sind seit Jahren immer dieselben, jedenfalls zu bestimmten Jahreszeiten. Carla kennt die Hoteleigentümer gut, obwohl es Jahre her ist, dass sie dort wohnte.

      Im Hotel wird immer um 19:00 Uhr zu Abend gegessen. Es ist jetzt 16:00 Uhr, ihre Eltern könnten also noch unterwegs sein. Sie weiß, das Mama sich auf jeden Fall vor dem Essen umziehen wird. Sie hat also noch zirka 2 Stunden Zeit.

      Sie steht auf und geht in die Küche, um sich einen weiteren Tee aufzubrühen. Der erste hat sie etwas aufgewärmt. Sie trägt schwarze Leggins und einen großen grauen Pullover darüber. An den Füßen hat sie selbstgestrickte, bunt gestreifte Wollstrümpfe, die normalerweise bis übers Knie reichen. Jetzt sind sie heruntergerutscht und geben den Blick auf ihre ausgeprägten Waden frei. Um den Hals hat sie ein dunkelrotes Seidentuch geknotet. Der Tee ist fertig und sie überlegt kurz, ob sie sich etwas zu essen machen soll, aber sie weiß nicht was, hat keinen Appetit, auf nichts. Sie setzt sich wieder in ihren Lieblingssessel von Tante Giuliana, lehnt ihren Kopf nach hinten an und schließt die Augen.

      Ihre Gedanken verlieren sich. Gerade fünf Jahre ist es her, dass sie Bruno beim Skifahren kennen gelernt hat. Sie wohnte damals noch in Innsbruck und hatte eine Anstellung an der Universitätsbibliothek. Nicht gerade ein Traumjob, aber er wurde gut bezahlt, und sie hatte relativ viel Freizeit. So konnte sie oft hinüber ins Stubaital fahren, meist mit ihrem alten Saab, wenn er nicht in der Werkstatt stand. Zur Not ging es auch mit dem Bus oder der Straßenbahn. Die fuhr allerdings nur bis Fulpmes. Bis zu ihrer kleinen Pension war es dann noch ein gutes Stück zu Fuß. Im Sommer kein Problem, im Winter schon eher aber es gab ja Taxis.

      An einem Abend saß sie mit ein paar einheimischen Freunden beim Haffnerwirt. Sie hatten am Ende eines wunderschönen Skitages noch etwas getrunken. Die Gaststube war voll, einige Gäste saßen am Tresen und da saß er auch. Sie konnte ihn von der Seite sehen. Ziemlich groß, etwas nach vorne geneigt, den Bauchansatz konnte er nicht verbergen. Er hatte große gepflegte Hände, die genauso von der Frühjahrssonne gebräunt waren wie sein Gesicht. Sie schätzte ihn auf fünfzig. Eigentlich saß er nur da vor seinem Glas und blätterte in der Speisekarte, aber irgend etwas an ihm machte sie neugierig. Was er wohl für Augen hatte? Sie taxierte Menschen ausnahmslos über deren Augen. Die Freunde hatten sich inzwischen verabschiedet und sie überlegte, wie der Abend weitergehen sollte. Sie wollte noch nicht gehen, der Mann am Tresen wollte offensichtlich etwas essen, fand keinen Platz, und sie verspürte plötzlich Hunger.

      Also war klar, wie es weitergehen sollte. Sie verrenkte sich beinahe den Hals aber offensichtlich verstand er ihre Zeichen nicht oder sah er nicht gut? Also stand sie auf und ging zu ihm hin:

      "Tschuldigung, wenn du möchtest,... also an meinem Tisch ist gerade Platz geworden. Meine Freunde mussten weg und ich bleibe noch etwas. Das passt doch."

      Er sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an, stand etwas umständlich auf, griff nach seinem Glas, ließ die Speisekarte aber liegen und folgte ihr zum Tisch. Da saß er ihr nun gegenüber.

      "Mein Name ist Bruno Hallstein, ich komme aus Berlin. Vielen Dank für Ihr Angebot. - Das ist immer das Problem, wenn man allein unterwegs ist. Man findet oft keinen Platz. Darf ich Sie zu einem Glas Wein einladen, sozusagen als kleines Dankeschön?"

      "Gerne, aber in den Bergen duzt man sich."

      Sie hielt ihm ihre Hand hin:

      "Ich bin Carla, Carla Weißensee aus Innsbruck, und ich nehme gerne einen Grünen Veltliner. Der, den sie hier anbieten, ist aus dem Kamptal, falls dir das etwas sagt. Wenn du lieber einen Roten magst, empfehle ich dir einen Zweigelt. Oder gehörst du zu denen, die immer nur Italiener trinken?"

      Es folgten noch einige Gläser an diesem Abend und seine anfängliche Förmlichkeit wich mehr und mehr dem Zweigelt, der ihm immer besser schmeckte. So erfuhr sie, dass er ein kleines Ingenieurbüro leitete, dass er schon seit fast fünfzig Jahren seinen Urlaub in Tirol verbrachte, seit einigen Jahren auch zum Skifahren hierher kam, meist über den Jahreswechsel und im Frühjahr. Während er so erzählte, hörte sie fast gar nicht mehr zu, sondern schaute ihn nur an. Er gefiel ihr, das wurde ihr schnell klar. Aber auch der Veltliner zeigte seine Wirkung. Sie winkten dem Kellner und bezahlten.

      Draußen hatte es inzwischen angefangen zu schneien. Sie ging über die Straße, wo zwei rote VW-Busse vom ortsansässigen Taxiunternehmen Schmörl warteten. Er stapfte hinterher, obwohl er eigentlich in die andere Richtung musste. Er wollte sie unbedingt wiedersehen. Bevor sie ins Taxi einstieg, drehte sie sich noch einmal um.

      "Vielen Dank Bruno, es war ein sehr schöner Abend. War doch gut, dass ich dich angesprochen habe, oder?"

      "Kann ich dir erst sagen, wenn wir uns wiedersehen. Sagen wir morgen, wieder hier?"

      "Morgen abend geht leider nicht, da muss ich spätestens um 20:00 Uhr in Innsbruck sein. Eine Freundin kommt zu Besuch und bleibt über Nacht. Aber wie wäre es morgen Vormittag zum Skifahren? Sagen wir 11:00 Uhr am Gamsgarten, Schirmbar?"

      Die Antwort wartete sie gar nicht ab. Mit einem "Schlaf gut" hauchte sie ihm einen Kuss auf die linke Wange und noch bevor er überhaupt kapierte, stieg sie in den VW-Bus und war weg.

      Ihr Kopf rutscht seitlich weg und ein Ruck geht durch ihren Körper. Carla ist sofort hellwach. Verdammt, eingeschlafen, denkt sie und schaut auf die Uhr. Es ist inzwischen 18:50 Uhr. Wenn sie Glück hat, kann sie ihre Eltern

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