Reise nach Rûngnár. Hans Nordländer
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Es war ungewöhnlich still, beinahe schmerzhaft still. Nils hörte keine Geräusche und kein Wind fuhr rauschend oder flüsternd durch die Baumwipfel. Die Bäume standen wie erstarrt. Nirgends flogen Insekten und keine Schmetterlinge tanzten über die Lichtung. Nicht ein einziger Vogel war zu sehen oder zu hören. Diese Welt schien einen unerklärlichen Widerspruch in sich zu bergen. Einerseits erkannte Nils, dass Leben um ihn herum war, zumindest pflanzliches Leben, andererseits wirkte seine Umgebung wie eingefroren, beinahe wie tot. Wo, um alles in der Welt, befand er sich?
Hier konnte er diese Frage nicht beantworten. Nils entschloss sich achselzuckend, in den Wald vor ihm hineinzugehen, wie düster und bedrohlich er ihm auch vorkam. Er schloss seine Jacke und machte sich auf den Weg.
Nils wählte den Waldeingang vor sich, weil er sicher war, dass er aus dem Pfad hinter sich auf die Lichtung getreten war, auch wenn ihn sein Erinnerungsvermögen im Stich ließ. Er vermutete es einfach aus der Tatsache, dass er in seinem Rücken lag.
Im Wald kam es ihm dann noch kälter vor, und wie zur Bestätigung dauerte es nicht lange, bis er seinen ersten beschlagenen Atem sah. Nils bewegte sich langsam und immer wieder blickte er sich um. Er wusste nicht, was er erwartete, und er entdeckte nichts, was ihm seine Lage erklären konnte. Offensichtlich gab es auch keine weiteren Lebewesen in seiner Nähe. Und obwohl er ständig mit einer Überraschung rechnete, blieb sie ihm zunächst erspart.
Solange er auf der Lichtung gestanden hatte, waren keine Geräusche zu hören gewesen. Jetzt vernahm er wenigstens seine leisen Schritte auf dem weichen Waldboden und ab und zu das Knacken heruntergefallener Zweige unter seinen Schuhen. Sein Gehör und seine Sehfähigkeit waren jedenfalls nicht beeinträchtigt.
Für eine Weile änderte sich kaum etwas. Der Pfad schlängelte sich zwischen den Bäumen hindurch und war selten weiter als vielleicht fünfzig Meter zu übersehen. Der Waldboden war eben. Weder nach vorn noch nach hinten oder zu den Seiten stieg er an oder fiel ab. Nils blickte auf sein linkes Handgelenk, um die Uhrzeit festzustellen, aber er hatte keine Uhr um. Das trug umso mehr zu seiner Verwirrung bei, denn er verließ seine Wohnung niemals ohne seine Uhr. Dieses Wissen war ein weiterer Teil seiner äußerst lückenhaften Erinnerung. Er ging mit erstaunlichem Gleichmut darüber hinweg. Überhaupt empfand er kein besonderes Unbehagen darüber, in dieser fremden Umgebung zu sein, die sich ihm so unerwartet geöffnet hatte. Für einen kurzen Augenblick kam Nils der Gedanke, dass er sich wirklich in einem Traum befand. Und wenn es so war, dann war er so klar und deutlich, wie er es niemals davor erlebt zu haben glaubte. Nichts erschien ihm verzerrt und surreal, wie es sonst oft der Fall war. Wenn er seine Lage auch nicht verstand, so erfüllte ihn immer mehr ein Gefühl von Neugierde gegenüber dem, was ihn erwartete.
Ein leises Knacken und ein raschelndes Geräusch schreckten Nils aus seinen zähen Gedanken auf. Ein Eichhörnchen. Es sprang zwischen den Bäumen umher und schien Nils noch nicht bemerkt zu haben – bis es fast vor seinen Füßen stand. Es blickte zu ihm auf, verharrte kurz in seinem Schrecken und flüchtete dann den nächsten Baumstamm hinauf. Nils beobachtete es lächelnd, bis er es nicht mehr sehen konnte. Das erste Lebewesen in dieser Welt, das sich bewegt, dachte er. Jetzt bestand wieder Hoffnung, auch noch auf andere zu treffen, und vielleicht gab es welche darunter, die ihm einige Fragen beantworten konnten.
Nils ging weiter. Allmählich veränderte sich der Wald. Die Bäume wurden kleiner und stämmiger. Es traten immer öfter Nadelbäume auf und dazwischen Büsche und Sträucher. Doch trotz dieser Veränderung blieb der Wald merkwürdig tot und das Eichhörnchen für einige Zeit das einzige Tier, das ihm begegnete. Es kam ihm fast genauso fremd und unpassend darin vor wie er sich selbst.
Der Wandel der Flora war nicht der Einzige, der ihm auffiel. Der Pfad schien jetzt in ein Tal hineinzulaufen, denn zu beiden Seiten stieg der Wald an. Die Flanken wurden steiler und Nils hatte den Eindruck, als ob der Pfad sich leicht nach unten senkte. Die Gegend wurde also bergiger. Nach wie vor war aber nicht erkennbar, wohin er führte, denn sein kurvenreicher Verlauf änderte sich nicht.
Dann endlich kam für Nils die erste wirkliche Abwechslung. Der Pfad überwand einen kleinen Fluss. Er kam von rechts lebhaft den Hang herab, kreuzte den Weg durch einen recht tiefen Einschnitt und verlief dann noch einige Meter auf seiner linken Seite, bevor er in einer Felsspalte verschwand. Der Flusslauf war zu breit, als dass er ihn überspringen konnte, und zu tief, um sich leicht aus ihm retten zu können, wenn er hineinfiel. An einer anderen Stelle hätte Nils das Gewässer vielleicht durchwaten können, obwohl das Wasser sehr kalt war, wie auch die Luft. Hier jedoch war das nicht möglich.
Glücklicherweise gab es aber eine hölzerne Brücke in einem einigermaßen vertrauenswürdigen Zustand, obwohl sie nicht neu war und keine Geländer hatte. Der Pfad war anscheinend von größerer Bedeutung, als seine Breite vermuten ließ. Und das wiederum gab Nils die Hoffnung, bald auf Menschen zu stoßen. Vorsichtig setzte er einen Fuß auf die Brücke – und sie hielt. Mit wenigen Schritten hatte er sie überquert. Das ließ der Zustand des Bauwerks auch erwarten, aber Nils hatte allgemein eine gewisse Ehrfurcht vor Brücken und Übergängen aller Art, unter denen mehr oder weniger tiefe Unterführungen verliefen, in die man hineinfallen konnte. Und die Abwesenheit von Handläufen verstärkte dieses Gefühl. Nils erfüllte eine deutliche Erleichterung, als er auf der anderen Seite angekommen war.
Er sah sich noch einmal um. Wenn er jedoch gehofft hatte, irgendwelche Bewohner dieser Gegend zu entdecken, wurde er abermals enttäuscht. Weder hinter ihm noch vor ihm ließ sich irgendwer blicken. Und trotzdem mussten in der Nähe Menschen leben, war Nils sicher. Dann ging er weiter und als wollte es seine Hoffnung bestätigen, fielen ihm in seinen Augenwinkeln zwei Schatten im Wald auf, die Ähnlichkeit mit Menschen hatten. Sie bewegten sich mit ihm, doch als er in ihre Richtung blickte, waren sie plötzlich verschwunden. Das ging erstaunlich schnell und Nils hatte weder knackende Äste noch andere Geräusche gehört, die auf jemanden hindeuteten, der sich durch das Unterholz bewegte.
Hm, dachte er und schüttelte den Kopf, wohl nur eine Einbildung. Dann ging er weiter.
Seine Erwartung, endlich auf eine menschliche Ansiedlung zu stoßen, blieb weiterhin unerfüllt. Für lange Zeit war die Brücke der einzige Beweis für das Wirken von Menschen. Es gab zunächst keine anderen Bauwerke und er fand nicht einmal Spuren, dass der Wald in irgendeiner Weise genutzt wurde.
Die Bäume standen inzwischen wieder dichter und der Pfad führte noch ein Stück in das Tal hinein und schließlich wieder hinaus. Die meiste Zeit war er so zugewachsen, dass er Nils keine Sicht auf die weitere Umgebung erlaubte. Nur ein einziges Mal war ihm ein kurzer Blick auf einen schneebedeckten Gebirgszug vergönnt. Der erschien ihm jedoch zu weit entfernt, als dass er die Wand des Tales sein konnte, durch das er sich bewegte. Und er fand es umso eigenartiger, weil es bei ihm zu Hause keine Berge gab.
Nils hatte jedes Zeitgefühl verloren. Ohne Uhr und ohne Sonnenstand war er in dieser Hinsicht hilflos. Aber seit er die Lichtung verlassen hatte, schien sich die Tageshelligkeit nicht verändert zu haben. Es war merkwürdig, aber wenn er in den Himmel hinaufschaute, dann hatte er den Eindruck, als würde er durch einen makellosen, milchig grauen Kristall blicken. Es gab für Nils aber keinen Zweifel, dass er schon einige Stunden unterwegs war und allmählich bekam er Hunger. Es gab jedoch nirgends etwas, das wie Nahrung aussah, kein Obst und keine anderen Früchte. Er hatte an einigen Bäumen zwar das eine oder andere gesehen, das wie eine Frucht aussah, aber sein Hunger war noch nicht groß genug gewesen, um es unüberlegt zu pflücken und zu versuchen. Nils wusste nicht viel von diesen Dingen, also hatte er auch keine Ahnung, ob das wirklich Obst war, ob es reif war und ob es überhaupt essbar war. Deshalb hatte er die Hände davon gelassen.
In seiner Jackentasche fand er schließlich einen etwas älteren Schokoladenriegel.