Reise nach Rûngnár. Hans Nordländer
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Читать онлайн книгу Reise nach Rûngnár - Hans Nordländer страница 4
Doch schon, während er sich dem Dorf näherte, beschlich ihn das Gefühl, dass dort ebenfalls etwas nicht stimmte. Eigentlich hätte es Weiden geben müssen, auf denen Vieh graste, und auch bestellte Felder, selbst dann, wenn noch keine Menschen zu sehen waren. Doch es gab nicht einmal Weidezäune oder kultivierte Hecken und es herrschte die gleiche eigentümliche Stimmung wie auf der Lichtung. Wie dort kam ihm auch jetzt die Gegend wie erstarrt vor und tot. Wenn Nils die Kutsche, das widersinnig hellblaue Reh und das Eichhörnchen nicht gesehen hätte, dann wäre er jetzt endgültig davon überzeugt gewesen, sich in einer leblosen Welt zu befinden, von allen Menschen und Tieren entblößt. Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als er das Dorf erreichte. Es gab kaum einen Zweifel, dass es verlassen war. Nirgends konnte er Einwohner oder herumlaufende Tiere entdecken. Es herrschte buchstäblich Totenstille. Es gab keine Vogellaute, ja nicht einmal Wind, der das Laub der Bäume zum Rauschen gebracht hätte.
Als Nils das Dorf betrat, spürte er zum ersten Mal Angst. Hier musste etwas Fürchterliches geschehen sein. Ihm kam der Verdacht, dass eine todbringende Krankheit das Land heimgesucht und alles Leben ausgelöscht hatte. Nils wagte plötzlich kaum noch zu atmen. Dann kam er sich albern vor, denn falls sein Verdacht zutraf, dann hatte sich das Unglück vor langer Zeit zugetragen, denn nirgends fand er Leichen. Und hätte er die Skelette längst vergangener Menschen oder Tiere angetroffen, dann wäre die Krankheit wohl keine Gefahr mehr gewesen, vermutete er. Da es also keine Hinweise darauf gab, war eine tödliche Seuche eher unwahrscheinlich, die Angelegenheit aber umso rätselhafter, denn dann hatte die Bevölkerung das Dorf aus anderen Gründen verlassen.
Es gab aber auch keine Anzeichen für einen vorangegangenen Krieg. Die Gebäude zeigten keine Zerstörungen, die nicht mit dem Zahn der Zeit zu erklären gewesen wären. Sehr schöne Häuser, wenn sie gepflegt wären, fand Nils. Ihm kam die undeutliche Erinnerung, dass die Häuser in seiner Kindheit diesen hier sehr ähnlich waren. Es waren überwiegend Fachwerkbauten mit roten Backsteinen zwischen den Holzrahmen. Sie waren durchweg strohgedeckt und offensichtlich alle ursprünglich landwirtschaftlich genutzt worden. Das Dachstroh war an wenigen Stellen verrottet, einige Fensterläden hingen schräg in ihren Angeln oder waren ganz herausgefallen. Einige Fensterscheiben waren zerbrochen, die Gärten bis zur Unkenntlichkeit verunkrautet und der größte Teil der Zäune morsch und umgefallen. Zwei umgewehte Bäume lagen in den Gärten – also gab es hier doch von Zeit zu Zeit Wind, und manchmal sogar ziemlich heftigen. Aber Nils fand nirgendwo Brandspuren. So sah ein Dorf aus, das vor langer Zeit aufgegeben und verlassen wurde.
Plötzlich kam Nils das merkwürdige, schief hängende Schild am Ortseingang wieder in Erinnerung. Er hatte die Zeichen darauf nicht als Schrift gedeutet und war deshalb achtlos an ihm vorübergegangen. Es war handgemalt mit roter Farbe. Sicherlich hatte es eine Bedeutung, nur eben nicht für ihn. Jetzt war er sicher, dass es eine Warnung war, aber wovor? Und für wen?
Während Nils durch die Straße und über die Grundstücke ging, in der Hoffnung herauszufinden, was dort geschehen war, erreichten die beiden Rûngori-Wächter das Dorf.
Bisher hatte Nils sich gescheut, in die Häuser einzudringen. Das war auch unter diesen Umständen noch Einbruch, fand er. Andererseits war ihm noch kein Mensch begegnet und so, wie es in dem Dorf aussah, bestanden auch kaum noch Aussichten darauf. Dann gab es auch keine Eigentümer mehr, die etwas dagegen haben konnten, wenn er die Häuser durchsuchte.
Nachdem er sich seiner Meinung nach lange genug in den Vorgärten herumgetrieben hatte, kam er zu dem Schluss, dass er wahrscheinlich eher in den Häusern eine Antwort auf das Schicksal der Dorfbewohner fand als draußen. Außerdem begann sich sein Hunger wieder zu regen und Nils rechnete damit, dass es trotz der Abwesenheit einer Sonne zur Nacht hin dunkel wurde und er irgendwann schlafen musste, das aber auch, falls es nicht dunkel wurde. Es war naheliegend, dass er sowohl etwas zu essen als auch einen Schlafplatz in einem der Häuser fand. Sein Entschluss zum Einbruch wurde durch die Erkenntnis gefestigt, dass es nachts wahrscheinlich empfindlich kalt werden würde, wo doch schon der Tag unangenehm kühl war. In der Hoffnung auf einige Antworten, etwas zu essen und einen annehmbaren Schlafplatz, machte er sich also daran, die Häuser zu durchsuchen. Nils wunderte sich über sich selbst, mit welcher Gelassenheit er hinnahm, zum Abend hin nicht wieder bei sich zu Hause zu sein, wo immer das war.
Das Dorf war nicht sehr groß. Es gab etwa zwanzig Höfe mit ihren Wohnhäusern, Ställen, Werkstätten und Speichern. Trotzdem würde es lange dauern, sich überall gründlich umzusehen.
Ein leises Quietschen ließ Nils zusammenfahren, als er das erste Haus betrat. Er atmete auf, als eine Maus durch den Spalt in der Tür ins Freie flüchtete. Sicherlich war sie über den plötzlichen Besucher genauso erschrocken wie Nils über die Maus. Immerhin bin ich nicht völlig allein hier, dachte er fast etwas beruhigt. Dabei war es durchaus bemerkenswert, dass er in diesem Augenblick sogar eine gewöhnliche Maus als willkommene Gesellschaft betrachtete. Unter anderen Umständen hätte er sie im günstigsten Fall (für die Maus) kaum beachtet. Jetzt war er aber nicht nur über ihre Anwesenheit erleichtert, sondern mehr noch darüber, dass diese Maus wie eine richtige Maus aussah. Sie war schon wieder verschwunden, bevor er mit seinen Gedanken zum Ende kam.
Die Dielen knarrten bedenklich unter seinen Füßen, als er langsam durch den Flur ging. Aus dem Blickwinkel reiner Vernunft hätte er nicht besonders vorsichtig sein müssen. Es war ziemlich unwahrscheinlich, hier auf einen Menschen zu stoßen, nachdem sich das Dorf als vollkommen verwaist erwiesen hatte. Er hätte sich sogar darüber gefreut, denn schließlich hatte er die ganze Zeit darauf gehofft. Aber sein Gefühl sagte ihm, dass er nicht allein und eine gewisse Achtsamkeit angebracht war. Und das betraf nicht die Anwesenheit einer Maus. Je länger er sich in dieser einsamen Gegend befand, desto unheimlicher wurde sie ihm.
Zunächst fand er aber weiterhin keine Anzeichen für die Gegenwart anderer Menschen, weder lebende, noch musste er die unangenehme Entdeckung eines Toten machen. Es roch zwar ein wenig muffig in dem Haus, aber keinesfalls nach den verwesenden Überresten eines Körpers. Aber das wäre nach der langen Zeit, die das Dorf verlassen sein musste, unwahrscheinlich gewesen. Da wäre die Entdeckung eines Skelettes wahrscheinlicher gewesen, aber auch die blieb ihm erspart.
Schon bald machte sich Enttäuschung in Nils breit. Nachdem er das dritte Haus durchsucht hatte, ohne Nahrungsmittel, Anzeichen für die Gründe der Aufgabe des Dorfes oder einen brauchbaren Schlafplatz zu finden, mehrten sich seine Zweifel, ob es Sinn hatte, noch lange so weiterzumachen. Das Einzige, was er feststellte, war die Sorgfalt, mit der die Leute ihre Häuser leergeräumt hatten. Damit war wenigstens klar, dass sie nicht überstürzt flüchten mussten. Eigentlich, dachte er, wäre es für mich besser gewesen, wenn sie in aller Eile getürmt wären.
Welche Möglichkeiten hatte Nils? Er konnte weiterwandern oder weitersuchen. Er entschied sich dafür, zu bleiben, wenigstens bis zum nächsten Morgen, wenn es überhaupt eine Nacht gab, auf die ein Morgen folgte. Vielleicht brauchte er nur noch ein wenig Geduld, bis er etwas Wichtiges fand. Trotz seiner ungewöhnlichen und – vielleicht – bedrohlichen Lage, musste Nils lächeln. Aber es war eher ein Lächeln aus aufkeimender Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit als eins aus Freude oder Erleichterung.
So wie es aussah, waren wirklich alle Einwohner geordnet davongegangen, denn in keinem der Wohnhäuser hatten sie etwas Brauchbares zurückgelassen. Fast alle bisher untersuchten Räume hatte Nils leer vorgefunden. In einem Raum gab es einen angebrochenen Schemel, in einem anderen eine schäbige Kommode, die keiner mehr gebrauchen konnte, aber alles andere hatten die Bewohner mitgenommen. Dabei bedauerte Nils weniger, dass er noch kein Schlaflager gefunden hatte, als vielmehr, dass es nirgends etwas zu essen gab. Viel hatte er nach der langen Zeit des Leerstandes des Dorfes nicht erwarten können, aber doch zumindest ein paar