Verfangen. Ingrid Neufeld
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Als sie sich damals entschied, Hauptschullehrerin zu werden, hatte sie das nicht nur getan, weil der Studiengang zufällig gerade nicht mit einem Numerus clausus belegt war. Nein, sie hatte das Studium gewählt, weil sie sich engagieren wollte, weil mit ihrer Hilfe auch sozial Benachteiligte eine Chance erhalten sollten.
Jetzt mit der Realität konfrontiert, sah Mareike nach einigen Jahren Erfahrung im Umgang mit schwierigen Jugendlichen, die keine privilegierten Starthilfen gehabt hatten, ihre Arbeit mit sehr viel weniger Enthusiasmus. Sie war oft genug gegen ihre eigenen Grenzen gerannt und hatte resigniert. „Wie oft habe ich dem Kevin gepredigt, dass er seine Hausaufgaben machen soll. Wie oft habe ich ihm und auch den anderen ins Gewissen geredet, damit sie im Unterricht mitdenken, ihnen erzählt, wie wichtig es ist gute Noten zu schreiben. Zigmal habe ich wiederholt, dass nur gute Noten eine Eintrittskarte in den Arbeitsmarkt bedeuten. Wie eine alte hängen gebliebene Schallplatte habe ich immer wieder dasselbe gesagt. Trotzdem denken die Kids, was die Lehrer sagen, interessiert sie nicht.“
Wegen ihrem Glauben war Mareike aber trotz ihrer zeitweiligen Resignation überzeugt, dass sie das Richtige tat, wenn sie sich in diesem Bereich einsetzte.
Deshalb war ihr auch besonders bewusst, dass sie das Jugendamt einschalten musste, wenn im Verhalten von Kevin keine Besserung eintrat.
Als Kevin an diesem Tag nach Hause kam, erwartete ihn seine Mutter schon in der Tür. Der Sohn wunderte sich. Das kam noch nicht mal an seinem Geburtstag vor. Sogar da stand sie normalerweise nicht in der Tür, um ihn zu begrüßen. Entweder war sie auf Arbeit, oder sie war von der Arbeit so platt, dass sie im Bett lag. Die Rolle mit dem Empfangskomitee war jedenfalls neu.
Jasmin zupfte an ihrem Nasenpiercing. Sie war so nervös, dass sie ihn versehentlich raus zog. Hastig stopfte sie ihn in ihre Hosentasche. Sie hatte jetzt wirklich nicht den Nerv, sich um einen herausgefallenen Piercing zu kümmern.
„Kommst du aus der Schule?“, fragte sie ihren Sohn, weil sie nicht wusste, wie sie sonst auf den Punkt kommen sollte.
Kevin zuckte die Schulter. „Klar, woher sonst?“
Das war das Stichwort. „Genau, woher sonst? Das frage ich dich. Deine Lehrerin sagt, du schwänzt ständig die Schule!“
Jetzt erst wusste Kevin was Sache war. „Und darum stehst du hier in der Tür, oder was?“ Er quetschte sich an ihr vorbei und war schon sauer.
Jasmin merkte, dass ihr das Gespräch entglitt, bevor sie es überhaupt begonnen hatte. Was lief da nur schon wieder schief?
„Wie das mit dem Schule schwänzen ist, will ich wissen!“
„Gar nichts ist damit“, behauptete Kevin und warf seine Schultasche in die Ecke, die Schuhe hinterher, genauso wie die Jacke. Wieso aufhängen? Die lag doch gut dort am Boden.
„Dann hat deine Lehrerin also gelogen, oder was?“
Kevin kaute nachdenklich auf seinem Kaugummi. „Und wenn schon. Die Alte hat doch sowieso nen Knall.“
„Und dann darf man einfach die Schule schwänzen?“, versuchte es seine Mutter wieder. Sie lief ihm hinterher in die Küche und stand jetzt direkt hinter ihm. Flehend schaute sie ihn an. „Das darf man doch nicht einfach.“
Kevin schob sie zur Seite. „Ach lass mich doch in Ruh. Ist doch alles gequirlte Scheiße!“ Er zischte ab.
Jasmin rief ihm hinterher. „ich bin noch nicht fertig. So einfach ist das nicht.“
Kevin, der schon fast aus der Tür war, drehte sich noch einmal um und zeigte seiner Mutter den ausgestreckten Mittelfinger. „Fuck“. , hörte sie noch, ehe der Sohn in seinem Zimmer verschwand und dort die Tür lautstark zuschlug.
Jasmin ließ sich auf den Klappstuhl vor dem Esstisch sinken. Sie fühlte sich hilflos und wusste nicht, was tun. Sollte sie ihm hinterherrennen? Ihn ohrfeigen? Ins Zimmer einschließen? Gedankenfetzen flogen durch ihren Kopf. Splitter aus ihrer Kindheit. Sie sah sich wieder als Fünfjährige. Bierflaschen überall, volle und leere, überquellende Aschenbecher. Der Vater ständig sturzbetrunken, der Kühlschrank gähnend leer, Schimmelränder, die Mutter nie zu Hause und wenn doch, dann hing auch sie an der Flasche. Sie erinnerte sich an Unordnung, Chaos, überall Wäsche dreckige und saubere, Geschirr, ungespült und unhygienisch, Ungeziefer, Müllberge, Streit, andauerndes lautes Gezeter, wütende Gesichter. Dann irgendwann kam jemand und nahm sie mit. Ins Heim, wo sie dann aufwuchs, inmitten von anderen Gestörten und früh vom Leben Gezeichneten. Sie lernte schlecht, hatte auch keine Lust, besuchte die Sonderschule und verließ die Schule dann irgendwann ohne Abschluss. Innerhalb weniger Sekunden zogen diese Bilder durch ihren Kopf. Und da fiel es ihr wie Schuppen vor die Augen: ihrem Kevin würde es nicht anders ergehen. Auch er würde die Schule ohne Abschluss verlassen. Auch er würde chancenlos in seinem Leben sein.
Jasmin wollte ihren Sohn retten. Er sollte kein so armes Schwein werden wie sie selbst. Er sollte mal in einem eigenen Haus leben, eine nette Frau und hübsche Kinder haben, die alle studieren sollten. Jasmin dachte nach, wie sie ihm helfen könnte, dass er solche Ziele erreichen würde.
Leider interessierte sich Kevin überhaupt nicht für solch ferne Ziele. Er wollte seine Mutter nicht sehen. Sie sollte ihn in Ruhe lassen. Hausaufgaben waren für ihn kein Thema. Sie existierten gar nicht. Jasmin kochte eine Suppe und rief ihren Sohn zum Essen. Doch der reagierte nicht.
„Kevin, jetzt komm endlich. Die Suppe wird kalt!“, rief die Mutter durch die geschlossene Tür.
„Kein Bock!“, kam endlich die Antwort.
„Du musst doch was essen!“, flehte Jasmin.
Da kam Kevin raus, doch nur um sich seine Jacke zu schnappen. „Scheiße verdammte. Kannst du mich nicht endlich in Ruh lassen?“
Er warf die Tür zu und verschwand. Jasmin wusste, dass sie ihn so schnell nicht wieder zu Gesicht bekommen würde. Wohin er ging, sagte er nicht. Auch wann er wieder kam, verriet er mit keinem Wort. Wahrscheinlich aß er bei MC Donalds. Woher er das Geld dazu hatte, blieb im Dunkeln. Denn Taschengeld bekam er nur wenig.
Jasmin fühlte sich als Versagerin. Sie war nicht oft zu Hause und sie kümmerte sich wenig um ihre Kinder. So war Anja auch jetzt im Kindergarten. Sie wurde von ihrer Mutter erst am Spätnachmittag abgeholt. Danach hatte sie meist keine Lust mehr, sich um ihre Tochter zu kümmern. Sie setzte sie vor den Fernseher und hoffte, möglichst nicht gestört zu werden. Oft musste sie aber auch abends noch arbeiten. Dann saß Anja mit ihrem Mann vor dem Fernseher. Ob der dann Kindersendungen schaute, war fraglich.
Die Tür klackte. Hoffnungsvoll schaute Jasmin auf. War Kevin zurückgekommen?
Da schlurfte ihr Mann in die Küche. Das