Die Kammer hinter dem Spiegel. Gerhard Gemke

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Die Kammer hinter dem Spiegel - Gerhard Gemke

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      Sekunden später sahen Ede und Carlo den nervösen Priester aus der Kirche eilen. Ede strich den Zettel glatt.

      „SICHERistSICHER“, las er. „Türen aller Art. Inhaber Julius Porter.“

      „Sicher ist sicher“, wiederholte Carlo und lauschte dem Echo seiner Stimme bis hinauf ins barocke Deckengewölbe. Bis zu den unzähligen Pfeifen der Breselner Domorgel. Den kleinen silbernen und den viele Meter hohen Holzschächten. Für Orgeltöne, so tief, dass man sie kaum hören konnte, nur als Flattern im Magen spürte.

      Basspfeife

      Montag, 28. Juni,

      Breselner Volksblatt.

      Unheimliche Einbruchserie fortgesetzt

      In der Nacht zum Sonntag drangen Unbekannte in die Wohnung von Frau R. in der Schulstraße. Frau R. hatte verdächtige Geräusche gehört und sich daraufhin im Schlafzimmer eingeschlossen. Der oder die Einbrecher hinterließen wie bei zwei vorherigen Straftaten (im November und März, wir berichteten) im Wohnzimmer eine Pappfigur mit einem aufgeklebten Fotogesicht. Kommissar van der Velde, der am Sonntagmorgen die kriminaltechnische Untersuchung leitete, fehlt jeglicher Hinweis auf die Täter und das Motiv. Sachdienliche Hinweise zur Identität der abgebildeten Personen bitte an das Kommissariat, Breselner Landstraße 110.

      Unter dem Artikel waren drei Schwarzweiß-Fotos abgedruckt. Sie zeigten eine Frau mit altmodischer Flechtfrisur und zwei junge Männer mit streng nach hinten gekämmten Haaren, wie es in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts üblich gewesen war.

      Hannes Bastian Bächle trat auf das ganz linke Pedal, das für den tiefsten Ton der Breselner Domorgel zuständig war. Die riesige Basspfeife bullerte. Einige Sekunden lauschte Hannes Bastian Bächle den körperlich spürbaren Schwingungen. Dann griff er in die Manuale und baute in einem gewaltigen Crescendo einen himmelhochschreienden Klang auf. Der Kirchenchor von Sankt Urban fügte einen kreischenden Akkord hinzu. Fünffaches Fortissimo. Musik des 21. Jahrhunderts. Hannes Bastian Bächle war stolz auf seine Komposition.

      Doch was war das? Gut, er hatte den Chormitgliedern So laut ihr könnt eingeschärft und ihnen zehn verschiedene Wörter aufgeschrieben, die sie in beliebiger Reihenfolge auf beliebigen Tonstufen singen sollten. Oder rufen. Aber Aufhören! und Gnade! gehörten nicht dazu. Definitiv. Und wer – um aller verbogenen Pedale willen – waren die beiden zotteligen Gestalten, die hinter der längsten Pfeife hervor krochen, sich die Ohren mit den Handballen zupressten, und mitten durch den Sopran stürzten?

      Die Damen mit den hohen Stimmen schrien jetzt ebenfalls einige nicht abgesprochene Ausdrücke und schubsten den Dicken und den kurzen Spiddel die Treppe der Orgelempore hinunter. Sekunden später krachte die Eingangstür von Sankt Urban. Der Knall brach sich an den Säulen und Deckenstreben, verzog sich in die dunklen Seitenkapellen, und hinterließ eine atemlose Stille.

      „Genau so“, sagte Hannes Bastian Bächle, „genauso leise muss es nach diesem Anfang werden. Und dann“, er zeigte auf Frau Reisich.

      Ludmilla Reisich füllte die Lungen. Bald schwebte ihr glockenreiner Sopran durch die bunten Sonnenstrahlen, die wie Bänder von den Glasfenstern bis hinab zu den Grabplatten im Kirchenboden reichten.

      „Was war denn das?“, bibberte Carlo.

      „Musik“, knurrte Ede. „Davon verstehst du nichts.“

      „Aber du!“, maulte Carlo, als sie am Kunibald-Brunnen vorbei stapften.

      „Du wolltest ja unbedingt hinter dem Ding übernachten.“

      „Ich konnte doch nicht ahnen …“

      „Hör auf zu flennen. Da kommt der Bus.“

      Der Überlandbus brachte sie für die letzten Cent, die sie zusammenkratzen konnten, nach Augsburg. Jetzt hatten sie in der Stadt ihrer schlimmsten Sünde gebeichtet und hatten gleich heute Morgen ihre Strafe erhalten. Noch bis zum Abend klangen ihnen die Ohren. Was stand jetzt noch einem neuen Leben im Wege?

      Gegen Mittag fanden sie die Gebäude der Firma für Türen und Schließanlagen SICHERistSICHER, und zwei Stunden später klopfte ihnen Julius Porter auf die Schultern. Dem Großen kräftiger und Carlo ganz vorsichtig. Ede besaß einen gültigen Führerschein, und der Kleine würde den Ausbau und Einbau von Schlössern aller Art schon noch lernen. Hoffte Herr Porter.

      Ungefähr zur selben Zeit saß Kommissar Franz van der Velde in seinem Büro. Vor ihm auf dem Schreibtisch lag die Montags-Ausgabe des Breselner Volksblatts. Zum dritten Mal schon las van der Velde den Artikel. Die Journalisten hatten tatsächlich die verschwundene Kette nicht erwähnt. Und den Jungen auch nicht. Wenigstens etwas. Van der Velde hatte sehr dringend darum gebeten. Einerseits, weil er nicht wusste, wieviel er auf Frau Regenbrechts Aussage geben konnte, aus verständlichen Gründen. Andererseits weil van der Velde nicht wollte, dass sich die Breselner Klatschmäuler auf einen dreizehnjährigen Jungen stürzten. Er wusste ja selbst nicht, was er davon halten sollte, dass dieser Bengel in jener Nacht am Tatort gewesen war. Deshalb hatte er Freddie Haustenbeck für 16 Uhr ins Kommissariat bestellt.

      Hinrich kam herein. Ohne Anzuklopfen. Van der Velde betrachtete ihn prüfend. Waren die struwweligen blonden Strähnen über Hinrichs Stirn ein Zeichen von Selbstbewusstsein? Oder von Aufmüpfigkeit. Hinrich schien den Blick gar nicht zu bemerken. Er kam ohne Umschweife zur Sache.

      „Die Pappe, Herr Kommissar.“

      Ein dunkelbrauner altersfleckiger Fetzen Wellpappe mit einem LKW drauf, dessen Motorhaube breit grinste, landete auf dem Breselner Volksblatt.

      „Stammt von Umzugskartons einer Augsburger Transportfirma. Die Firma gibt es seit dreißig Jahren nicht mehr.“

      „Aha“, sagte der Kommissar. „Würdest du bitte die Tür schließen?“

      Hinrich schaute sich irritiert um. Während er mit dem Fuß die Tür zudrückte, fuhr er fort: „Der Inhaber dieser Firma ist bereits über neunzig. Er glaubt aber, sich erinnern zu können, dass diese Kisten mit dem lustigen Auto drauf bis etwa 1960 hergestellt wurden.“

      „Lustig“, brummte van der Velde.

      „Jedenfalls lässt sich nicht mehr nachvollziehen, bei wem solche Kisten gelandet sind. Einen Kaffee, Herr Kommissar?“

      Van der Velde sah Hinrich in die Augen. „Schwarz.“ Er suchte irgendetwas in seiner Hosentasche. „Und ich möchte, dass du beim nächsten Mal anklopfst.“

      Jetzt war es Hinrich, der den Kommissar prüfend ansah. „In Ordnung, Herr Kommissar“, sagte er steif. Zumindest ein Dankeschön hätte er erwartet. Hinrich öffnete die Bürotür.

      „Noch was.“ Dem Chef war irgendwas über die Leber gelaufen, das war nicht zu überhören. „Vergiss nicht die Zellentür.“

      „Nein“, sagte Hinrich.

      „Und Hinrich.“

      Was kam denn jetzt noch?

      „Danke.“

      Als die Tür zu war, hatte van der Velde das Kaugummi gefunden und zog es aus der Hosentasche. Vielleicht half es ja gegen

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