Von Jerusalem nach Marrakesch. Ludwig Witzani

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Von Jerusalem nach Marrakesch - Ludwig Witzani

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hatte sich gerade einen Joint reingezogen. Auch der Röchler im Nachbarbett war aufgewacht und hustete sich derart aus, dass der Schleim durch die Gegend flog. Seine Bronchitis habe er sich geholt, als er „mangels Kohle“ 14 Tage lang am Strand von Haifa habe schlafen müssen, erzählte er. Dann hätten ihn die Israelis aufgegriffen und ihn in eine eiskalte Gefängniszelle gesteckt, was ihm den Rest gegeben hätte.

      Als ich aufstand und durch die Wohnung lief, zählte ich etwa vierzig bis fünfzig Menschen, für die gerade mal ein Bad und eine Toilette zur Verfügung standen. In der Küche warteten die ersten Traveller, um unter der Aufsicht eines jungen Israeli einen dünnen Tee entgegenzunehmen. Ihre Gesichter waren von Kälte und Erschöpfung gezeichnet, sie waren ins Heilige Land gekommen und in einer Vorhölle gelandet, in der es natürlich auch das versprochene Frühstück nicht gab. Was von dem jungen Israeli zu erhalten war, war eine Scheibe Weißbrot mit einem sparsamen Schlag Marmelade. Wer mehr wollte, musste zahlen. Ich trank den Tee, ergriff meinen Rucksack und verließ die Wohnung. Erst im Bus bemerkte ich, dass mir meine Israelkarte, die locker in der Außentasche des Rucksacks gesteckt hatte, gestohlen worden war.

      Schon das erste Zimmer, das ich mir in der Altstadt von Jerusalem ansah, gefiel mir so gut, dass ich es gleich für mehrere Nächte im Voraus bezahlte. Es hatte zwar auch keine Heizung, aber ein geräumiges Bett mit drei warmen Decken, eine Nachttischlampe, Tisch und Stuhl und ein kleines Bad, in dem ich mich erst einmal gründlich wusch. Von meinem Fenster aus konnte ich am Ende einer Gasse das Jaffator sehen, gegenüber befanden sich eine öffentliche Garküche, daneben eine Schneiderei und eine Teestube. Die Vermieter meines Zimmers waren zwei arabische Brüder, die mir sofort nach der Anmietung einen Tschai mit Keksen ins Zimmer brachten. In dieser Nacht war es genauso kalt wie in den Nächten vorher, doch ich schlief unter den warmen Decken tief und fest.

      Am nächsten Morgen fiel noch mehr Schnee in Jerusalem, und ich sah, wie die Araber dick vermummt durch die Straßen liefen. Zu meiner Überraschung brachten mir meine Vermieter einen kleinen Heizstrahler ins Zimmer, der aber nur eine halbe Stunde arbeitete, ehe der Strom ausfiel. Ich zog mich so warm an wie möglich, schlang mir meinen dicksten Schal gleich mehrfach um den Hals und begann meinen ersten Rundgang durch die Heilige Stadt. Viel zu sehen gab es nicht, denn die Araber hatten wieder einmal einen Generalstreik ausgerufen. Hochgezogene Eisengitter, verunsicherte Touristen auf der Suche nach der Via Dolorosa. Finstere Blicke aus den Hauseingängen. Wohin ich auch kam: nichts als gähnende Leere auf den Straßen. Kein Teeausschank an den Straßenecken, kein Gewürz- oder Mandelduft an der Nähe der Moscheen. Sogar die Souvenir-Shops waren geschlossen.

      Ich ging in mein Zimmer am Jaffator zurück, lege mich unter die dicken Decken ins Bett, bis es mir warm wurde und begann ein wenig in meinen Reiseführern zu lesen. Wo immer ich das Buch auch aufschlug, die Nachricht war immer dieselbe: Die Geschichte des Heiligen Landes war eine lückenlose Aufeinanderfolge von Blut und Tod. Folgte man der Bibel, begann alles mit der langen Wanderung Urvaters Abrahams vom Zweistromland nach Palästina. Hier ließen sich die Israeliten in der Stadt Hebron nieder, weswegen sie in den ersten Jahrhunderten ihrer Geschichte auch als „Hebräer“ bezeichnet wurden. Die archäologische Forschung zeigte ein etwas anderes Bild: Demnach erreichten die Israeliten als versprengte Reste der Seevölker Palästina im 13. oder 12. vorchristlichen Jahrhundert. Ein mörderischer Vernichtungskampf gegen die einheimischen Philister und Amalekiter führte zur Einigung der jüdischen Stämme und zur Einführung des Königtums. Dieser Vorgang aus altvorderen Zeiten war den Palästinensern heute noch gegenwärtig, denn sie erkannten darin nicht mehr und nicht weniger die Blaupause der zweiten jüdischen Landnahme im 20. Jahrhundert.

      Im Zuge dieser frühgeschichtlichen Kämpfe hatte König David um 1000 vor der Zeitrechnung Jerusalem erobert und die Stadt zur Hauptstadt Israels erhoben. Sein Sohn König Salomo baute den ersten Tempel, der 587 vor Christus von den Babyloniern zerstört wurde, ein traumatisches Ereignis der jüdischen Geschichte, weil im Zusammenhang mit der Zerstörung des großen Tempels die Bundeslade verloren ging. Da nicht ganz auszuschließen ist, dass auch jugendliche Leser dieses Reisebuch studieren werden, hier nur zur Erklärung: Die Bundeslade ist das geheimnisvolle Objekt, dem Harrison Ford in „Jäger des verlorenen Schatzes“ nachspürt. Für alle anderen: Die Bundeslade war der mythische Behälter der zehn Gebote, die Gott auf dem Sinai Mose übergeben hatte.

      Wie immer es auch gewesen sein mochte, auch ohne Bundeslade wollten die Juden auf ihren Tempel nicht verzichten. So errichtete Serubabel, der letzte Spross der davidischen Dynastie, unter der Herrschaft der Perser den zweiten Tempel, den der Seleukide Antiochos IV 169 vor Christus in Schutt und Asche legte. Herodes der Große ließ kurz vor der Zeitenwende den dritten Tempel errichten. Ganz fertig wurde er erst im Jahre 64, nur wenige Jahre, bevor er von den Römern 70 nach Christus zerstört wurde. Als Kaiser Hadrian im Jahre 130 auf dem verwaisten Tempelberg einen Jupitertempel errichten ließ, erhoben sich die in der Stadt verbliebenen Juden unter der Führung des charismatischen Pseudomessias Bar-Kochba zu ihrem letzten Aufstand. Diesmal machten die Römer reinen Tisch. Eine halbe Million Juden wurde erschlagen, der Rest wurde versklavt oder aus dem Land gejagt. Weil es den in Palästina verbliebenen Juden verboten war, Jerusalem zu betreten, wurde Tiberias am See Genezareth durch Verlegung des Sanherib (des großen Rates) zum neuen Zentrum des Judentums.

      Mit dem Siegeszug des Christentums in der Spätantike verbesserte sich die Lage der Juden kaum, auch wenn ihnen Kaiser Konstantin wieder erlaubte, an besonderen Festtagen Jerusalem zu betreten. Gedankt haben die Juden den Christen das nicht. Als die persischen Sassaniden im Jahre 618 Jerusalem eroberten, unterstützten die Juden die Perser bei der Zerstörung sämtlicher christlicher Kirchen der Stadt. 629 nahm der siegreiche byzantinische Kaiser Herakleios dafür grausame Rache: Alle Synagogen Jerusalems wurden zerstört, und die Christen kippten ihren Müll auf den Tempelberg. Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass all diese Ereignisse nur Intermezzi waren oder besser: nur das Vorspiel eines viel fundamentaleren Wandels, der das Gesicht der gesamten bekannten Welt in weniger als einem Jahrhundert fundamental verändern sollte: der Expansion des Islam.

      Schon 638, sechs Jahre nach dem Tod des Propheten, eroberte der Kalif Omar Jerusalem, und es dauerte nicht lange, da wurde die Stadt auch für die Moslems heilig, weil man den Ort der Himmelfahrt des Propheten kurzerhand von Mekka nach Jerusalem verlegte. Mit dem Bau des Felsendoms und die Errichtung der Al-Aqsa-Moschee auf dem jüdischen Tempelberg veränderten die Moslems die religiöse Geometrie der Stadt für immer. Eine dritte Weltreligion hatte ihre Hand auf die Stadt gelegt, fest entschlossen, sie nie mehr aus ihrer Kontrolle zu entlassen.

      Trotzdem lebten die Juden während der gesamten Zeit der Diaspora unter der Herrschaft der Muslime freier und unbedrängter als unter den Christen, die die Juden als „Jesusmörder“ verfolgten. Ein wirklicher Bevölkerungszuwachs des Judentums im Sinne einer ersten zaghaften Rückwanderung aus der Diaspora setzte erst unter der türkischen Herrschaft ein, als der Sultan den aus ihrer Heimat vertriebenen spanischen Juden im Jahre 1492 die Ansiedlung im Heiligen Land (und hier vor allem in Zefad) gestattete. Damit wurde Zefad zur vierten heiligen Stadt der Juden, zum Ort der Neuinterpretation des Talmuds und zum Sitz des Großen Rates. Unter Sultan Suleiman dem Prächtigen entstanden im 16. Jahrhundert sogar Pläne für die Etablierung eines halbautonomen jüdischen Staatswesens unter osmanischer Oberhoheit.

      Die Gründung Israels vollzog sich aber dann doch ganz anders, und zwar als Folge des Zusammenspiels von europäischem Nationalismus und moderner Antisemitismus. Als Pogrome und Judenhass Europa am Ende des 19. Jahrhunderts erschütterten, entstand der Zionismus als politische Reformbewegung und propagierte die Etablierung eines eigenen jüdischen Nationalstaates - und zwar nirgendwo anders als im Land der Väter! In mehreren Einwanderungswellen kehrten die die Juden seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts nach Palästina zurück, kauften das Land von reichen Scheichs aus Damaskus und Beirut, machten es urbar und wussten es gegen die gleichzeitig einsetzende Zuwanderung von Arabern aus den Nachbarregionen zu verteidigen.

      Die eigentliche Staatsgründung Israels nach dem Zeiten Weltkrieg wurde für den arabischen Kulturkreis dann zu einem traumatischen Ereignis. Die kleine Streitmacht des neuen Staates

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