Von Jerusalem nach Marrakesch. Ludwig Witzani

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Von Jerusalem nach Marrakesch - Ludwig Witzani

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Bau auf einem der südwestlichen Hügel der Neustadt. Es bestand aus vier Abteilungen, von denen mich nur der „Schrein des Buches“ interessierte. In diesen Schrein wurden die bedeutendsten historischen Schriftrollen des Judentums aufbewahrt, unter anderem das Buch Jesaja, einige Briefe des jüdischen Freiheitskämpfers Bar Kochba und die Schriftrollen aus Qumran. Über 850 Rollen mit überwiegend theologischem Inhalts waren zwischen 1947 und 1956 in elf Felshöhlen in der Nähe vom Qumran von französischen Forschern gefunden worden, eine archäologische Sensation ersten Ranges, nach der die abenteuerlichsten Spekulationen ins Kraut geschossen waren. Die Autoren der Schriftrollen von Qumran wurden mit den Essenern gleichgesetzt, einer asketischen jüdischen Sekte der Zeitenwende, deren Angehörige im Umfeld des Toten Meeres gelebt haben sollen. Plötzlich schien es ein Neues Testament vor Jesu zu geben, manche mutmaßten sogar, dass Johannes der Täufer oder Jesus selbst in Qumran gelebt hätten. Inzwischen hatten sich diese Spekulationen gelegt, weil eine nähere Untersuchung der Schriftrollen doch ganz erhebliche Unterschiede zwischen dem Frühchristentum und den Lehren der Essener zutage gefördert hatte.

      Äußerlich glich der Schrein des Buches dem überdimensionalen Deckel eines jener Tonkrüge, in denen die Schriftrollen vom Toten Meer gefunden worden waren. Im Innern waren die Ausstellungsräume Höhlen und Nischen nachgebildet, in denen man hinter Glas die Kopien der heiligen Schriften betrachten konnte. In einem Nebenraum wurde eine Sammlung jüdischer Kultgegenstände ausgestellt, hauptsächlich aus Osteuropa, aber auch aus dem iranischen und dem arabischen Kulturraum: Ziselierte Kerzen, ornamental überladene Weihrauchbehälter mit winzigen Figürchen an den Seiten, dazu alte Handschriften, Monstranzen und Thorarollen-Behälter.

      Auf dem Berg Yad Vashem ging ich durch die Allee der Gerechten, eine von Nichtjuden gepflanzte und namentlich gekennzeichnete Baumreihe, die an all die Menschen erinnerte, die während des Holocaust unter Einsatz ihres eigenen Lebens Juden vor den Nazis gerettet hatten. Wer die Schicksale dieser Retter näher betrachtete, würde seine Vorurteile revidieren müssen. Es waren eben nicht in erster Linie die liberalen, toleranten, areligiösen Deutschen gewesen, die ihr Leben für ihre jüdischen Mitbürger riskiert hatten, sondern eher provinzielle, religiös geleitete Menschen, die oft Juden gar nicht leiden konnten und die ihre Hilfe allein aus ihrer christlichen Antrieb herleiteten.

      Im „Monument des Kindes“ hatten die Israelis unter Einsatz von Spiegeln und optischen Täuschungen einen schier endlosen schwarzen Raum geschaffen, der von Tausenden und Abertausenden kleiner Lichter erhellt wurde. Jedes Licht stand für ein ermordetes Kind, und über ein Endlosband wurden die Namen der Kinder verlesen. Eine Nacht des Todes, wenngleich versehen mit dem Trost, dass die Namen der Kinder nicht vergessen waren, eine ungemein effektive Inszenierung des Grauens, von der ich mich fragte, ob diese ästhetisierende Vergegenwärtigung des Schrecklichen im Angesicht des letztlich Unverständlichen angemessen sein konnte. Wahrscheinlich aber war sie notwendig, denn das Gemüt des Menschen gleicht nicht nur einem Sieb, durch das alles nur hindurchgeht, sondern es ist auch so robust wie die Borsten einer Sau, so dass die Erinnerung an das Unaussprechliche auf lange Sicht auf sinnliche Anker angewiesen ist.

      Im Park des Holy Land-Hotels konnten die Besucher eine Attraktion der besonderen Art besichtigen: ein im Miniaturmaßstab wiederaufgebautes Jerusalem, mit anderen Worten: eine komplett rekonstruierte antike Großstadt wie ich sie noch nie anschaulicher gesehen hatte. Erst im Angesicht dieser fußballfeldgroßen Miniaturstadt begriff ich, wie sehr Jerusalem nicht nur ein überzeitliches Phänomen sondern auch ein urbaner Organismus gewesen war, der sich im Laufe der Jahrtausende verändert hatte. Was man im Park des Holy Land Hotels sah, war nicht das Jerusalem Salomos oder Davids, sondern das Jerusalem der Zeitenwende, war eine jüdisch-syrische-hellenistische Stadt, in der Jesus predigte, gefangengenommen und hingerichtet worden war. Klein und sich wie eine Schlange den Zions Berg hinaufwindend, erkannte ich die Davidstadt, die Keimzelle Jerusalems. Nördlich davon, ein echter Blickfang innerhalb der Rekonstruktion, befand sich der Tempelberg, auf dem aber nicht der Tempel König Salomos, sondern der dritte Tempel stand, den König Herodes der Große ab 19 v. Christus hatte erbauen lassen und der schon bald nach seiner Fertigstellung von den Römern zerstört werden sollte. Oberhalb der Stadtmauer waren die drei herodianischen Türme platziert, der Luppikus, der Phasael und der Mariamne, die mit über 45m Höhe zu den höchsten Türmen des Orients zählten. Rechts daneben erstreckte sich der Palast des Herodes im Schatten der Stadtmauer. In der Oberstadt befanden sich die Bauten der Reichen und Arrivierten, unter anderem der Palast des Hohepriesters Kaiphas und Davids Grab auf dem damals noch von einer Mauer umschlossenen Berg Zion. Ein Gymnasium, eine Agora und eine Rennbahn repräsentierten die hellenistischen Bauelemente der Stadt. Hoch über der Stadt und gleich neben dem Tempelberg beherrschte die römische Antoniafestung die Stadt. Der Hügel von Golgatha, der Ort der Kreuzigung, befand sich zur Zeitenwende noch außerhalb der Stadtmauern.

      Seit Beginn der Reise schleppte ich drei Kilo Kosmetik mit mir herum, die mir Alberto, einer meiner Kölner Freunde, für seine Ex-Partnerin Zahala mitgegeben hatte. Endlich kam ich dazu, sie anzurufen, um mit ihr einen Übergabetermin für die Kosmetik zu vereinbaren. Wir trafen uns in der Ben Yehuda Straße in der Jerusalemer Neustadt, keine schlechte Wahl, denn in dieser Straße war von der bedrückenden Gegenwart Israels nichts zu spüren. Ich erlebte eine Mischung zwischen Berlin und Mailand mit Straßenmusik, Cafés, öffentlichem Schmuckverkauf und jeder Menge kleiner Restaurants. Zahala kam mir mit ausgebreiteten Armen entgegen und umarmte mich, eine sympathische, etwas füllige Frau mit roten Haaren und einem runden Gesicht. Wie mir Alberto erzählt hatte, musste sie in ihrer gemeinsamen Kibbuz-Zeit ein richtiger Feger gewesen sein. Nun aber war sie eine gläubige Jüdin geworden, führte mich in ein koscheres Restaurant und erklärte mir den Sinn des koscheren Essens. Die Nichtvermischung von Milch und Fleisch, so Zahala, gehöre zum Niveau menschlicher Humanität, weil es barbarisch sei, das Fleisch der Kuh in ihrer eigenen Milch zu genießen. Es ist doch nie die gleiche Kuh, deren Fleisch und Milch wir verspeisen, dachte ich, behielt diesen Einwand aber als zu sophistisch für mich. Stattdessen fragte ich, ob man das koschere Essen mit der Abneigung gegen Pferdegulasch vergleichen könne, denn für mich gehöre es auch zum Niveau menschlicher Humanität, kein Pferd zu verspeisen. Und wie verhielte es sich mit den Chinesen, die für sich in Anspruch nähmen, die älteste Hochkultur der Welt zu vertreten, die aber zugleich alles verputzten, was ihnen auf den Teller kam? Diese Nachfragen stießen bei Zahala auf wenig Gegenliebe. Wie es sich mit dem Pferdegulasch und den Chinesen verhielte, wisse sie nicht, sagte sie, aber das koschere Essen gehe auf göttliche Offenbarung zurück, wovon beim Pferdegulasch ja wohl nicht die Rede sein könne. Als sie das Fünfte Buch Mose zitierte: „Du sollst das Zicklein nicht in der Milch seiner Mutter kochen“ musste ich passen, denn an Kenntnis des Alten Testamentes konnte ich es mit Zahala nicht aufnehmen. So lenkte ich das Gespräch auf Alberto, über dessen israelische Lebensetappe ich gerne mehr erfahren hätte. Alberto war zusammen mit seiner Familie aus dem Rumänien des Diktators Ceausescu nach Israel ausgewandert, wo er mit Bruder und Schwester eine Zeitlang im Kibbuz gelebt hatte, ehe die ganze Familie nach Deutschland ausgewandert war. So hatten sich viele moderne Juden verhalten: Vor die Wahl gestellt, ein hartes Leben im Land ihrer Urväter zu führen oder ein bequemes im Land ihrer Mörder, entschieden sie sich für das zweite. Aber wer war ich, darüber zu richten? Viel witziger waren die Geschichten, die Zahala über Albertos Militärdienst zu berichten wusste. Einmal, als Alberto mit seiner Einheit auf dem Sinai stationiert war, hatte er sich in seiner Freizeit hinter eine Düne zurückgezogen und sich unter Vorlage einer Playboy-Ausgabe einen heruntergeholt. Leider wurde diese Aktion von der amerikanischen Satellitenaufklärung aufgezeichnet und dem Kommandeur des Bataillons übermittelt. „Wie kannst du unsere große Armee nur so blamieren?“ hatte der Kommandeur gebrüllt und Alberto zum Strafdienst in der Latrine eingeteilt. Das war lange her, und ich konnte ihr meinerseits berichten, wie gut sich Alberto und seine Familie in Deutschland eingelebt hatten. Nein, eine feste Beziehung habe er immer noch nicht, erzählte ich, und Zahala nickte mit wissender Miene.

      Am letzten Tag meines Aufenthaltes in Jerusalem erkletterte ich den Ölberg, um mir das Gesamtpanorama der Stadt anzusehen. Im Vergleich zur Miniaturausgabe der antiken Stadt im Garten des Holyland-Hotels fehlte im Süden die Davidstadt und der umwallte Zionsberg. An der Stelle des großen Tempels erkannte ich vom Ölberg aus die Umrisse

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