Completely - Gesamtausgabe. Mej Dark
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Das gefiel mir jetzt überhaupt nicht. „Mathematik ist gar nicht so trocken, wie man gemeinhin denkt. …“, erwiderte ich etwas gekränkt.
„Liebster, hör jetzt bloß auf!“, unterbrach sie mich. „Du zerstörst gerade die beste Stimmung. Dafür hast du offenbar ein besonderes Talent.“
Unvermittelt hielt Grace im eiligen Gang inne und betrachtete nachdenklich ein kleines von Hand geschriebenes Aushängeschild an der schiefen Tür eines heruntergekommenen kleinen Hauses: Madam Bourier, Wahrsagerin - geöffnet -. Das Haus befand sich vollkommen deplaziert zwischen zwei prächtigen Neubauten in der Gasse.
„Von der Frau habe ich gehört.“, murmelte meine temperamentvolle Begleiterin erstaunt. „Sie war mal eine Berühmtheit. Ich dachte eigentlich, sie wäre schon lange tot. Lass uns doch nachsehen. Das ist eine seltene Gelegenheit und sicher kein Zufall.“
Ich wollte Grace widersprechen. Sie zog mich aber energisch zur Tür. Dahinter erwartete uns ein kleiner unscheinbarer Laden, wenn man ihn überhaupt so nennen konnte. Allerlei mystischer Krimskams wie Amulette, Heilsteine, getrocknete Tiere, alte Bücher und Tarot-Karten lagen ungeordnet und verstaubt herum. Ein wenig Kerzenlicht und ein aus dem letzten Jahrhundert stammender Mief in der Luft vervollkommneten die gruselige Atmosphäre. Es roch nach Sumpf, Kräutern und kalten Zigarrenrauch, wie in einem Gasthaus, das schon seit Jahrzehnten geschlossen war.
Eine feine Glocke schellte beim Öffnen der knarzenden Tür nach.
„Wahrsagen? Das ist doch nicht dein Ernst?“, protestierte ich halbherzig, nachdem mir klar wurde, was sie hier wollte. „Wahrsagen ist keine Wissenschaft, sondern einfach Humbug!“
„Humbug ist es vielleicht, wenn man die Allervollkommenste mit Hilfe der Mathematik finden will!“, antwortete mir eine fremde tiefe Stimme. Sie klang ungewöhnlich, wie die eines alten Mannes.
Ich erschauerte innerlich. Woher konnte hier überhaupt jemand von meinem Vorhaben wissen?
„Hast du jemandem davon erzählt?“, hauchte ich Grace hastig an. „Warst du schon einmal hier?“
„Nein, ich wusste nicht einmal von diesem Haus!“ Sie wirkte paralysiert und sah mich mit ihren großen Augen erschrocken an. Vielleicht bereute sie schon ihre Spontanität, die uns hierher geführt hatte.
„Tretet doch näher, ich kann nicht mehr so gut laufen!“, klagte der oder die Unbekannte.
Die Stimme kam aus einem Raum hinter dem uralten Perlenvorhang. Nun war ich doch durch diese merkwürdige Antwort neugierig geworden. Meine Hand schob die mit mattem Bernstein beperlten Fäden beiseite. Staub stob auf und uralter Schmutz rieselte zu Boden, als wäre der Vorhang seit Jahrzehnten nicht mehr durchquert worden.
„Sie kennen mich?“, wandte ich mich an die in Lumpen gehüllte Dame, die dort saß. Ihr Kleid musste aus vergangenen Jahrhunderten stammen. Für einen Moment musste ich mir sogar die Nase zu halten, so unangenehm süßlich beißend war der Geruch, der uns empfing.
„Es gibt diese Welt und es gibt sie zugleich nicht“, murmelte das seltsame Wesen geheimnisvoll.
Das Grauen des Unheimlichen erfasste mich. Mir war, als öffnete sich im Geiste eine verborgne Tür. Grace wirkte wie eine leblose Puppe und sagte kein Wort. Ihr Mund stand verblüfft offen. Wir gingen mit weichen Knien, eigentlich war es mehr ein Gefühl des Schwebens, zu den zwei wackligen Stühlen gegenüber der Hexe. Der Begriff schoss mir unwillkürlich ein. Ja, anders konnte man die Person nicht bezeichnen. Die Umgebung und auch die Stimmung war wie in den klassischen Grusel-Geschichten. Grace drückte angstvoll meine erkaltete Hand und wagte gar kein Wort zu sagen.
„Kennen Sie mich?“, stammelte ich erneut meine Frage mit brüchiger Stimme.
Die uralten verschleierten Augen wandten sich in in meine Richtung. Ich konnte diesen unschönen Anblick kaum ertragen und schlug die Augen nieder. Die alte Dame musste grauen Star haben und war vielleicht sogar schon komplett blind. Der von ihr permanent herüber wehende modrige Geruch eines geöffneten Grabes sowie die schmutzige Umgebung erfüllten mich mit Ekel.
„Ich sah dich gerade mit einem Mädchen in einer fernen Zukunft“, brabbelte ihr zahnloser Mund.
„Mit der Allervollkommensten?“, rief ich nun doch aufgeregt und vergaß all die Hässlichkeit. Die widerliche Alte zog mich tatsächlich durch ihre merkwürdigen Worte und das Wissen, welches nicht aus dieser Welt stammen konnte, in Bann. Das, obwohl ich eigentlich als Mann der Wissenschaften weder an Wahrsagung noch Hexerei glaubte.
Die Prophetin lachte jetzt wie ein Zicklein.
„Man kann die Zukunft nicht genau voraus sagen!“, beharrte ich halbherzig, war aber in Wirklichkeit doch neugierig auf mehr. Mein Gerede kam mir in diesem Moment selbst dumm vor.
„Hast du das denn schon berechnet und kannst es mit Gewissheit beweisen?“, spottete sie den Nagel auf den Kopf treffend. Mir wurde schwindelig. Sie schlug mich mit den eigenen Waffen und hatte zugleich eine mir vollkommen unbekannte gezückt. Woher hatte sie überhaupt wissen können, dass ich mich mit Mathematik beschäftigte?
Ihre Stimme hatte sich inzwischen auch noch verändert. Sie klang nun geradezu jung und weiblich. Meine feinen Rückenhaare schienen sich zu sträuben, Schauer liefen über meine Haut und ich schwitzte kalten Schweiß. Meine Begleiterin schien einer Ohnmacht nahe und glotzte wirr auf das Geschehen. Nur mit Mühe schien sie sich überhaupt noch aufrecht zu halten.
„Nur Narren glauben an die Wahrheit!“, fuhr sie fort. Das klang fast so nebulös, als wäre sie ein geschultes Mitglied der Philosophischen Vereinigung.
Ich reichte ihr die linke Hand.
„Wer bin ich denn?“
Ihre warzige Hand ertastete geschickt meine Linien. Die Fingernägel waren lang, schmutzig und zerschlissen, als hätten sie lange in Grabeserde gewühlt. Leblos wirkende Augen waren auf mich gerichtet. Sie schien kaum noch sehen zu können.
„Ich bin leider vollkommen blind!“, bestätigte sie meine Gedanken und kicherte abermals ein wenig verrückt dazu.
„Was ist denn so lustig?“, versuchte ich zumindest äußerlich selbstsicher zu erscheinen.
„Sofern du etwas gesagt hast, muss ich leider mitteilen, dass ich auch vollkommen taub bin“, fuhr sie fort. Mein Gott, wo war ich hier nur? Der Wunsch sofort auf zu springen und fort zu laufen kämpfte mit meiner Neugier. Das Streben nach Weisheit beginnt nun einmal mit dem Verlangen, etwas zu lernen.
„Du bist nicht, was du zu sein glaubst, aber auch nicht was andere sehen. Unabhängige Existenz - selbst des Bewusstseins - ist eine Illusion“, erklärte sie in orakelhafter Manier weiter.
„Dies ist mir schon klar, ich verstehe ein wenig von Philosophie“, erwiderte ich. Zugleich ärgerte ich mich jedoch über meine Dummheit. Die Alte war doch taub und konnte gar nicht meine Worte hören.
„Wenn ich nun schon Geld für die Wahrsagerei ausgebe, würde mich interessieren, ob ich die Vollkommene auch wirklich finde?“ Um zu vertuschen, dass mir das erneut in der Aufregung herausgerutscht und tatsächlich an die taube Wahrsagerin gerichtet war, tat ich zum Schluss so, als spräche ich zu Grace. Zumindest sie sollte den Eindruck behalten, dass ich alles unter Kontrolle hatte und nicht mit einer Gehörlosen sprach. Anastasia schien aber in ihrem fast somnambulen