Completely - Gesamtausgabe. Mej Dark
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„Dort sind viele giftige Sachen!“, versuchte mein Verwandter mich abzuschrecken. „Du könntest dich verletzen und sogar sterben. Solange du deinen Geist nicht wirklich lenken kannst, nutzt dir Wissen ohnehin nichts.“
Diese Geheimnistuerei machte mich natürlich noch neugieriger und ich wartete nur auf den passenden Moment, um meinen Wissensdurst zu stillen. Zugleich knisterte Unmut durch meine Brust, weil Uropa meinen Intellekt unterschätzte und mit dem eines Spatzen verwechselte.
Bisher war ich jedoch nie lange genug allein. Selbst die Toilettengänge meines Herrn und Meisters fielen relativ kurz aus. So musste ich die Untersuchung der verbotenen Kammer immer wieder verschieben.
Eines Tages beschwerte ich mich.
„Außer Singen und Trommeln hast du mir nichts beigebracht. Was ist nun mit dem wahren Wissen?“ Beim letzten Wort verlieh ich meiner Stimme einen ironischen Klang.
Mein neuer indianischer Lehrer knurrte etwas und warf sich ein bemaltes Hirschfell über. Inzwischen hatte ich mich daran gewöhnt, dass er oft ohne jedes Kleidungsstück herumlief. Durch die Trance entwickelte der Körper so viel Hitze, dass selbst ein Lendenschurz unerträglich warm schien. Selbst ich hatte das schon erfahren.
„Die Trance ist das Wichtigste. Sie ist das Eintrittstor zur Weisheit, denn alles läuft im Geist ab. Jedes Lebewesen lebt in seinem eigenen Kosmos. Beherrschst du deinen Geist, beherrschst du die Welt!“
Dumm klang das nicht, aber auch nicht so neu. Ich musste natürlich etwas dagegenhalten: „Wenn mich einer schlägt, tut mir das trotzdem weh!“
„Pass nur auf, du Klugscheißer!“
Er nahm eine lange eiserne Stricknadel aus einer Kiste, zog mit seinen Fingern die eigene Zunge heraus und stach die Spitze der Nadel von unten nach oben mitten hindurch. Dabei verzog er keine Wimper und sah mich prüfend an. Ich riss schockiert die Augen auf. Was hatte er vor?
„Das ist ein Trick!“, warf ich ein. „Auf Jahrmärkten habe ich auch schon machen Zirkus gesehen.“
Nun zückte er ein Messer und schnitt sich hinter der eingestochenen Nadel die Zunge ab. Ich schrie entsetzt auf.
„Mein Gott, bist du von Sinnen? Du wirst verbluten!“
Doch wo blieb das Blut?
Gleichmütig hielt er die abgetrennte Zungenspitze ins Feuer. Anschließend drückte er sie wieder an den Stummel im Mund, wo sich immer noch kein roter Tropfen zeigte. Dann goss er aus einem Krug Wasser darüber und zog die Nadel heraus.
Ohne ein Wort zu sagen, sah er mich an.
„Das ist ein billiger Zauber! Gib mir mal die Nadel!“, forderte ich.
Der Dorn war sicher präpariert.
Mein Urgroßvater reichte mir das irgendwie präparierte Ding. Ich betrachtete es von allen Seiten. Die rostige Nadel wirkt echt. Zur Probe pikste ich wie er unter meine Zunge und schrie sofort vor Schmerz auf. Blutgeschmack verbreitete sich in meiner Mundhöhle.
„Alles wird im Geist erzeugt, jeder Gedanke und jeder Schmerz. Stell dir vor, es gäbe im gesamten Universum kein Lebewesen mit Bewusstsein. Gäbe es das Universum dann überhaupt?“
Mein verblüffter Blick verdeutlichte ihm, dass er mich kurzzeitig geschlagen hatte. Wer konnte auch erwarten, dass sich ein nackter, nicht alternder Schamane mit tiefgründigen philosophischen Fragen beschäftigte?
„Das Universum gibt es in diesem Fall natürlich und zugleich aber auch nicht. Es fehlt das wahrnehmende Bewusstsein“, murmelte ich nachdenklich seine Frage gedanklich hin und her wendend.
„Percy, du hast also noch viel zu lernen, mein Wunderkind, bis du dein Erbe antreten kannst!“, schloss er orakelnd ab.
„Warum siehst du so jung aus?“, lenkte ich das irgendwie verlorene Gefecht auf ein anderes Schlachtfeld. Diese Frage hatte er bisher nie wirklich beantwortet. Zugleich nahm ich ihm den Wind aus den Segeln: „Am Wetter hier liegt es nicht! Die anderen Leute sehen älter als Gleichaltrige in Manhattan!“
„Pass mal auf!“, sagte er. Im nächsten Augenblick schlug er einen Rhythmus auf seiner Trommel und grunzte dazu ein paar Laute in seiner Geheimsprache.
Schon fühlte ich mich wie im siebten Himmel und begann auch noch wie ein trunkener Bär zu tanzen. So sehr sich mein Wille wehrte, er konnte sich diesen packenden Klängen nicht entziehen. Der Bär roch den Honig, wollte aus Angst vor den Bienen nicht auf den Baum klettern und kletterte doch. Es war wie ein Zwang aus einer anderen Welt, ein sog des Unterbewusstseins. Beflügelt ließ mein Körper die Last aller Gedanken zurück. Jegliche Sorgen blieben am Boden, während ich schwebte. Eine ekstatische Trance riss den Geist fort.
„So macht man das!“ Er schlug ein weiteres Mal auf seine Schamanentrommel und mein Körper blieb versteinert mitten in der Bewegung stehen. Kein Glied vermochte ich mehr zu bewegen.
„Hexerei!“, zischte mein Mund. Speichel lief durch die übermenschliche Anstrengung aus meinem Mundwinkel. Hände und Füße waren jedoch vollkommen gelähmt.
„Nein, das ist das wirkliche Wissen, du hochnäsiger Großstädter! Lerne einfach!“
Wieder schlug er singend die Trommel und ich tanzte erneut gegen meinen Willen wie eine willenlose Puppe dazu. Als ich wieder zu mir kam, stand ich durchgeschwitzt und ebenfalls vollkommen nackt da. Stunden mussten vergangen sein. Beschämt verdeckte ich meine Blöße mit einem der herumliegenden Kleidungsstücke.
Urgroßvater saß essend auf einem Hocker. „Wenn du dich in Trance versetzen kannst, dann kannst du das auch mit anderen machen. Das ist nur eine Frage der Technik“, erklärte er lächelnd.
Dieser Gedanke begeisterte mich nun doch. Als Erstes würde ich den hinterhältigen Doktor mit dieser Kunst beglücken, der sich an meine Mutter herangemacht hatte. Vielleicht nutzte dieser Kuraufenthalt tatsächlich etwas. Zumindest diese Hypnosetechnik, denn etwas anderes konnte das nicht sein, wollte ich erlernen – so gut, dass der Fiesling bald nach meiner Pfeife, äh Trommel, tanzte.
Ich fühlte mich nach der Anstrengung sehr hungrig. Wie lange hatte mich der Alte überhaupt tanzen lassen? Nicht nur meine Sorgen hatten den Körper verlassen, auch in meinem Magen herrschte knurrende Leere.
„Was gibt es heute Schönes zu essen?“, fragte ich ganz profan und klopfte symbolisch auf den Bauch.
„Unsere Vorräte sind so gut wie aufgebraucht. Ich habe nicht mit Besuch gerechnet und du isst sehr viel. Geh heute doch einmal hinunter in die Stadt und kauf uns etwas.“
Wie großzügig … Gastfreundschaft erster Güte!
Aber diese Abwechslung kam mir auch recht. Mehr als drei oder vier Wochen war ich bereits in der zugigen Hütte eingesperrt. Sie umgab mich wie ein Gefängnis. Der Schamane, die Ziege und die zwei Hühner waren die einzigen Lebewesen, die mir Gesellschaft leisteten. Na ja, beim Kacken weideten noch die Büffel in der näheren Umgebung. Das war aber wirklich alles.
Urgroßvater setzte sich ans Feuer und schmökerte in einem Buch mit mir unbekannten Schriftzeichen.
„Ich brauche aber Geld!“, stellte ich fest. Sonst würde