Sieben Gründe, warum wir nicht so gut sind, wie wir sein könnten. Peter Schmidt

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Sieben Gründe, warum wir nicht so gut sind, wie wir sein könnten - Peter Schmidt

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richtig sein, was die Herde tut …

      Aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs ist bekannt, dass auf beiden Seiten nach anfänglicher Euphorie durch Kriegspropaganda schon bald Skepsis herrschte und die einfachen Soldaten in hohem Maße am Sinn des Krieges zweifelten – und trotzdem weiter brav zwischen Leichenbergen durch den Schlamm tappten ...

      Erst wenn das Nervensystem nach fünfzehn Stunden Artilleriebeschuss wegen Dauerzittern den Dienst versagte, wurde der Herdentrieb gestoppt.

      Wie Schafherden folgen wir leicht einem Trend, einer gesellschaftlichen Wendung – als sei es ein archaisches Überbleibsel, ein immer gleicher Sicherungsmechanismus in unseren Genen, der evolutionär so lange erfolgreich war, weil er unser Überleben sicherte …

      Und erst recht in Not, als Unterlegene im System, gedemütigt beispielsweise als Staat, als Klasse oder wegen Religionszugehörigkeit oder hinsichtlich unseres Status in der Hierarchie.

      Als Menschen fliegen wir zwar zum Mond, zocken als Börsenspekulanten trickreich nicht mit dem eigenen Vermögen, sondern dem Guthaben unbedarfter Sparer, bauen selbst Garagentore ein, führen womöglich erfindungsreich das Finanzamt hinters Licht – und sind doch an einer existentiell so bedrohlichen Schaltstelle der Politik wie dem Auftreten des Nationalsozialismus, der uns 60 Millionen Tote und ein in Schutt und Asche liegendes Deutsches Reich eingebracht hat, naiv wie Schafe ...

      Wie also kommt es zu einem analytisch derart schwachen Urteil in weiten Kreisen der damaligen deutschen Bevölkerung? Neben Mitläufertum aus Gleichgültigkeit, Angst und Bequemlichkeit bleibt hier nur eine Erklärung:

       Der Durchschnittsmensch ist für die Beurteilung von Sachverhalten dieses Typs offenbar wenig geeignet – und er ist auch wenig geneigt dazu …

      Dass analytisches Denken im Unterschied zu praktischer Intelligenz nicht gerade unsere größte Stärke ist, lässt sich gut an einem Beispiel demonstrieren, bei dem es um die Fähigkeit zu logischem Denken geht.

      Befragungen haben ergeben, dass viele Menschen die Plausibilität folgender beider Behauptungen nur schwer einschätzen können. Sie haben Schwierigkeiten zu erkennen, welcher Satz logisch richtig ist:

      BEISPIEL 1:

       Gesetzt den Fall, alle Pfeifenraucher sind Griechen und Sokrates ist Grieche, dann raucht er demzufolge aus logischen Gründen Pfeife.

      BEISPIEL 2:

       Gesetzt den Fall, alle Griechen sind Pfeifenraucher und Sokrates ist Grieche, dann raucht er demzufolge aus logischen Gründen Pfeife.

      Sicher kann man sich im Einzelfall immer irren, also auch in unseren Beispielen. Solche Fragen ersetzen keinen Intelligenztest. Es geht nicht um Herabsetzung, sondern um Verstehen. Aber sollte nicht angesichts der Gräuel des Holocaust die Frage erlaubt sein, warum nach den ersten Synagogenbränden, den ersten Judensternen, den ersten boykottierten Geschäften jüdischer Händler wenigstens als schlichte Frage ein Aufschrei in Deutschland ausblieb: Und warum genau werden diese Menschen diffamiert?

      Konstatieren wir also, dass am Beginn eines barbarischen, unmenschlichen, gegen jede Moral und jedes Recht verstoßenden millionenfachen Mordes nicht nur dumpfe Gefühle und unkritisches Mitläufertum oder Sorge um die eigene Sicherheit stehen, sondern womöglich auch ein klares intellektuelles Defizit.

      Oder eben auch zusätzlich kalte Pflichterfüllung und Härte, fehlende Empathie, pathologischer Hass auf Juden bei jemandem, der besser als jeder andere wusste, was er tat. Heinrich Himmler am 7. Juli 1941 an seine Frau Marga: „Ich fahre nach Auschwitz. Küsse, Dein Heini.“

      Die „Denkmuster“ des Holocaust – wenn man es denn so nennen will – sind bekanntlich kein bloßer Betriebsunfall der Geschichte. Es handelte sich auch nicht nur um einen kleinen Kreis eigentlich verantwortlicher Akteure um Hitler – wie Himmler, Heydrich, Eichmann und ihre Vollstrecker vor Ort, zum Teil auch ausländische Zuarbeiter („Trawniki“) –, sondern selbst die gewöhnliche Polizei, erst recht die Gestapo, war für Tausende von Morden an Juden und anderen als minderwertig angesehenen Bevölkerungsgruppen verantwortlich.

      Wir erleben Ähnliches in den afrikanischen ethnischen Kriegen, z. B. im Kongo, im Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten in Nordafrika und in vielen ähnlichen Konfliktsituationen auf allen gesellschaftlichen Ebenen.

      Eine Gesellschaft, die zu solchen Fehlern imstande ist, wird auch dann nicht ausreichend klüger, wenn darauf eine Demokratisierungsperiode folgt, wie gegenwärtig nach dem Nationalsozialismus und Holocaust. Aufklärung ist hier – im Kern – eben nicht Analyse, sondern auch nicht viel mehr als wohlfeile Anpassung an den gerade geltenden Mainstream.

      Daran ändern auch die Möglichkeiten des Internets mit Meinungsäußerungen und Diskussionsforen trotz aller wünschenswerten Informationen erkennbar nicht so viel, dass man von einer neuen Ära, einem Phasensprung innerhalb der aufgeklärten Gesellschaft reden könnte.

       Unsere Prognose, ob nach solchen Katastrophen ähnlichen Entwicklungen vorgebeugt wird, kann daher nur negativ sein.

      Wie in These „Die Krankheit des Bewertens“ gezeigt, betrifft dieses intellektuelle Defizit vor allem auch Bewertungen – und zwar mit beträchtlichen negativen Folgen.

      Katastrophen solcher Art wiederholen sich nicht 1:1, sondern suchen sich – wegen unveränderter Grundeinstellung – ein anderes, neues „Gesicht“, eine Gestalt, in der die problematischen mentalen und intellektuellen Bedingungen nicht mehr so offensichtlich vergleichbar sind.

      Das heißt, wir werden glücklicherweise in naher Zukunft wohl keine Abtransporte von Juden mehr erleben, keine Kristallnacht mit brennenden Synagogen, keine Bücherverbrennung, keinen verschlagenen Scharfmacher wie Göbbels, keinen schreienden Demagogen wie Hitler. „Hitler wird er nicht heißen – aber was heißt das schon?“, so der Schriftsteller Michael Klaus.

      Die Gesellschaft verhält sich zwar kritischer und aufgeklärter eingedenk der jüngsten Vergangenheit. Doch der schöne Schein trügt und verschleiert nur das eigentliche Problem – unsere mentale Grundhaltung und die anscheinend irreparable analytische Schwäche, die ihr zugrunde liegt. Der Seelenfriede des Wertobjektivisten ist nur eine „schön tapezierte Fallgrube“. Das Nazi-Drama der Vergangenheit führt eher zu einem Kontrastproblem, zur Blendung, zu einer Art Sehschwäche, gegenwärtige destruktive Tendenzen geringer zu bewerten:

      Geheimdienste kontrollieren Telefon und Internet in einem Ausmaß, von dem Gestapo und Stasi nur hätten träumen können. Banken und Börsen zocken mit unermesslichen Summen bei höchstem Risiko, womöglich wohlkalkuliert, auf Kosten des Steuerzahlers. Die Besitzenden bestimmen in einer Klassengesellschaft von Arbeitnehmern und Kapitaleignern fast ausschließlich allein, wohin die Wirtschaft steuert – obwohl sie ohne Mitarbeiter gar nicht existieren könnten.

      Ausbeutung ohne Mindestlöhne ist, besonders bei ausländischen Arbeitnehmern, an der Tagesordnung. Doch selbst Mindestlöhne sichern keine ausreichende Rente. Frauen werden in der Regel schlechter bezahlt, Erwerbslose in einer reichen Gesellschaft am Rande des Existenzminimums gehalten – bei über 30 Milliarden Euro Rüstungsetat in Deutschland, den uns unsere Bereitschaft zur Gewalt kostet.

      Menschen sterben, weil sie auf den Meeren der Welt ein lebensgefährliches Risiko eingehen, um an den Türen der Satten und Reichen um Arbeit zu bitten. Aus Angst vor Missbrauch des Sozialhilferechts wird zum Beispiel zugezogenen Rumänen trotz Freizügigkeit innerhalb der EU in

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