Als Erich H. die Schule schwänzte. Hans-Georg Schumann
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Es hatte allerdings nicht nur einmal Probleme gegeben, weil Hülya von Mitschülern und sogar von einem Lehrer in der Stadt gesehen worden war. Beim ersten Mal waren sich die betreffenden Schüler nicht mehr sicher, als Hülya alles vehement bestritt. Im zweiten Fall blieb der Lehrer, der sie gesehen hatte, hartnäckig. Doch Hülya verstand es sehr überzeugend die Reuige zu spielen. So kam sie mit einer Verwarnung davon.
Ihr war bewusst, dass es auf Dauer so nicht weitergehen konnte. Aber was machte es schon, wenn sie von der Schule flog? Hatte ihre Mutter nicht recht, wenn sie in Arabisch sagte: »Hülya soll frei sein, solange sie noch kann. Und wozu lernen, wenn ihr künftiger Mann komplett für sie sorgt? Das verdreht ihr nur den Kopf.«
Ihr Vater Mahsun war ähnlicher Ansicht. Allerdings wollte der, dass alles seine Ordnung haben sollte. Deshalb war er nicht damit einverstanden, dass seine Tochter die Schule allzu oft schwänzte. Die Entschuldigungen seiner Frau verteidigte er trotzdem. Denn auch er war der Meinung, dass seine Tochter keine Schulbildung brauchte.
Wozu auch? Hatte sie doch mehr als das, was für eine baldige Heirat nötig war: Sie war schön, nähte ihre Kleidung selbst, wusste, was in einem Haushalt zu tun war. Und dazu konnte sie fließend Deutsch sprechen – im Gegensatz zu ihren Eltern.
Mahsuns Wortschatz reichte aus, um sich »da draußen« einigermaßen zu verständigen. Bei der Grammatik und Rechtschreibung ließ er sich von seiner Tochter helfen. Arabisch dagegen beherrschte er sehr gut. Das war auch die Sprache, in der er sich mit seiner Frau Farida unterhielt.
Die weigerte sich, diese »schreckliche Sprache« Deutsch zu erlernen. Dennoch blieb es ihr nicht erspart, wenigstens ein paar Worte zu sammeln, um Bruchstücke verstehen und in Brocken antworten zu können.
Selten verließ Farida das Haus. Grundsätzlich trug sie nur weite hochgeschlossene Kleidung und ein eng um den Kopf geschlungenes Tuch. Meistens ging sie dann in einen Laden um die Ecke, in dem arabische Lebensmittel angeboten wurden. Kaufte dort ein, hielt ein kurzes Schwätzchen mit der Frau des Ladenbesitzers – in Arabisch. Wieder zu Hause, kümmerte sie sich dann um den Haushalt. Oder setzte sich vor das Fernsehgerät, um sich dort DVDs mit orientalischen Filmen anzuschauen.
Arabisch war auch die Sprache, die Hülya neben ein bisschen Türkisch gelernt hatte. Sie mochte diese Sprache, wegen ihres Klangs, aber auch wegen ihrer Schrift. Beides hatte im Vergleich zu europäischen Sprachen etwas Märchenhaftes. Auch wenn Mitschüler sich schon einige Male über das Arabische lustig gemacht hatten.
»Das sind ja nur Brech- und Würgelaute«, hatte Urban gelästert, ein Schüler aus ihrer Klasse, der besonders gute Noten in Englisch und Französisch hatte – bei Hoofeller. Der hatte ihn zurechtgewiesen, obwohl Urban sein bester Schüler war.
Hülya mochte Hoofeller gern, obwohl sie bei ihm in Deutsch auf einer Vier stand und in Englisch sogar im Begriff war, auf eine Fünf abzurutschen. Aber Hülya lag nichts an Englisch, sie liebte das Arabische. Einmal hatte sie das zu Hoofeller gesagt. Der wurde nachdenklich und sagte dann: »Vielleicht sollte ich auch Arabisch lernen?«
Als sie ihm vor einigen Stunden in der Stadt über den Weg lief, war sie erst mal ganz schön schockiert. Am liebsten wäre sie gleich weitergegangen. Doch er hatte sie festgehalten und »Warte« gesagt.
Dann hatte er sich vor ihr telefonisch krankgemeldet, also gelogen. Das war schon ein Ding. Ein Lehrer macht es wie die Schüler: Schwänzt die Schule. Und gleich fand sie diesen Typ noch sympathischer.
Was wollte er von ihr, sie als Alibi benutzen? Er hätte doch einfach weitergehen können. Genau so, wie sie es vorhatte. Aber vielleicht war es ihm peinlich. Und er wollte sie dazu überreden, ihn nicht anzuschwärzen? Hatte er aber dann doch nicht gemacht.
Sie könnte also einfach morgen rumerzählen, dass sie Hoofeller beim Schwänzen erwischt hätte. Aber irgendwie tat er ihr leid. Was hätte sie davon, ihn zu verpetzen? Schadenfreude? Am Ende bekam er noch Ärger – wegen ihr. Das wollte sie nicht.
Und wie peinlich es ihm war, als die Leute her guckten! Sie verstand nicht, wie das einem Lehrer peinlich sein kann. Der sich doch traut, seinen Kram vor einer ganzen Klasse auszubreiten. Auch war er offenbar ab und zu mal nicht ganz bei sich. So zerstreut. Typisch Lehrer.
Und einen Grund für sein Schwänzen wusste er auch nicht. »Alter vor Schönheit«, wollte sie eigentlich sagen, als er sich mit »Ladies first« erst mal um eine Erklärung gedrückt hatte. Aber später hatte er auch nichts Richtiges dazu zu sagen.
Da waren ihre Argumente auf jeden Fall besser. Auch wenn sie ihm offenbar nicht gefielen. Doch Hülya hatte keine Lust, jetzt darüber nachzudenken. Dazu war noch ein ganzes Jahr Zeit.
04
Sein Handy blieb abgeschaltet. Und falls das Festnetztelefon klingelte, würde er nicht drangehen. Sollte das doch sein Anrufbeantworter erledigen.
Nun saß Erich schon einige Zeit in seinem Arbeitszimmer. Grübelte über sein Fernbleiben von der Schule nach, ohne einen Grund dafür zu finden.
Tags zuvor hatte er noch unterrichtet – wie immer. Hatte dann allerdings nur noch physisch an der Konferenz teilgenommen. Lag da bereits der Keim für sein heutiges Schwänzen, wie Hülya es nannte?
Er schüttelte den Kopf. Wie oft war er schon abends nach Hause gekommen und hatte sich ausgebrannt gefühlt. Und war dann doch am nächsten Tag wieder zur Schule gegangen. Nicht nur, weil das sein Job war, für den er bezahlt wurde. Sondern auch weil es ein Teil seines Lebens war, ein für ihn vorwiegend angenehmer Teil.
Denn mit den Schülern kam er meistens gut zurecht. Dafür war es bei ihm nicht so leise wie bei manchen Kollegen. Dafür durften die Schüler während des Unterrichts auch mal »Fachfremdes« tun. Erich hatte nie den Ehrgeiz gehabt, alle Schüler für seinen Unterricht zu motivieren – wie das genannt wurde.
Schließlich waren die Schüler die Kunden, er war nur Dienstleister. Wollten die Schüler Wissen vermittelt haben, stand er zur Verfügung, ihnen Bestmögliches zu bieten. So trugen die Schüler eine Mitverantwortung am Unterricht. Wer nicht wollte, hatte sich nur so zu verhalten, dass andere nicht beim Arbeiten und Lernen gestört wurden.
Das klappte natürlich nicht immer. Denn schon ein Störenfried konnte die ganze »Suppe versalzen«, wie er es nannte. Meist jedoch fand Erich einen Weg, sich auch mit dem Lernunwilligsten zu arrangieren. Dazu gehörten auch eine »dicke Haut« und mehr als ein Quäntchen Sturheit.
Letztlich gab es keinen Grund für ihn, plötzlich zu schwänzen. (Langsam fand er Gefallen an dem Ausdruck.)
»Na ja«, sagte er laut zu sich, »jeder braucht mal eine Auszeit.«
So außergewöhnlich war das nicht. Wer wusste schon, wie viele Leute ihrer Arbeitsstelle fernblieben, einfach weil sie keine Lust zum Arbeiten hatten? Vielleicht hatte das sogar dazu geführt, dass sie schließlich ihre Arbeit wieder mit mehr Elan aufnehmen konnten?
»Rein statistisch gesehen«, sagte Erich wieder laut, »müsste ich mit meinen 60 Jahren viel öfter fehlen.«
Einen Grund hätte er nun: Die Statistik. Nach einem Artikel, den er kürzlich gelesen hatte, war angeblich der Krankenstand bei Lehrerinnen und Lehrern fast dreimal so hoch wie bei anderen Berufen. Außerdem hieß es dort, dass nur 5 Prozent bis zum Pensionsalter durchhielten.
»Rein statistisch