Als Erich H. die Schule schwänzte. Hans-Georg Schumann

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Als Erich H. die Schule schwänzte - Hans-Georg Schumann

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beschloss er, es keineswegs zu bereuen, dass er heute nicht zum Unterricht erschienen war. Und er war sicher, dass er in wenigen Tagen wieder unterrichten würde.

      Morgen allerdings sollte er noch nicht gleich wieder zur Schule gehen. »Wenn ich mir von meinem Hausarzt ein Attest für mehrere Tage ausstellen lasse, fällt es auch nicht weiter auf.«

      Da kam ihm Hülya in den Sinn. Die hatte es doch längst weitererzählt. Sein Schwänzen würde in den nächsten Tagen die Runde machen. Wie sollte er es da als echtes Kranksein kaschieren? Wenn alle wüssten, dass er mit Hülya während des Unterrichts in der Stadt in einem Café gesessen hatte?

      So würde er noch während seiner Abwesenheit zum Gespött der ganzen Schule. Und wenn er zurückkäme, würden alle auf ihn schauen und hinter seinem Rücken über ihn tuscheln.

      Bisher hatte Hoofeller sich nie etwas zuschulden kommen lassen, war auf jeden Fall immer das, was man als »guten Beamten« bezeichnete. (Ohne dass er wusste, was genau das war.)

      Und jetzt das. Wie das aussah: Alter Knacker trifft sich mit einer Schülerin aus seiner Klasse, und beide schwänzen. Er malte sich schon aus, welche Kollegen besonders viel Schadenfreude empfinden würden.

      Auffällig genug war Hülya schon immer, seit er sie kannte. Mit der eigenwillig bunten Kleidung, die sie trug. Und auch ihre Stimme war unüberhörbar. Und wenn sie dann noch lauter wurde als normal, dann ersetzte sie jedes Alarmsignal.

      Erich war das peinlich gewesen, so die Aufmerksamkeit anderer zu erregen. Ein Auftreten wie das von Hülya hätte er sich in seiner Jugend und bis heute niemals getraut. Er war immer möglichst unauffällig gekleidet, eher in Richtung Grau oder Beige. Und er pflegte leise und deutlich zu sprechen. Nur wenn es im Unterricht zu laut wurde, konnte auch er mal lauter werden.

      Wie auch immer. Jetzt jedenfalls würde er sich ein Glas Rotwein genehmigen. Vielleicht ausnahmsweise auch mal ein zweites. Und dazu ein Buch lesen. Es war schon eine ganze Weile her, da hatte er mit »Hundert Jahre Einsamkeit« von Garcia Marquez in Spanisch begonnen. Jetzt war Zeit genug, diese Lesung fortzusetzen.

      Er fragte sich, ob er gern 100 Jahre alt werden würde. Dann hätte er noch 40 zu leben. Keine schlechten Aussichten. In 5 Jahren wäre er fertig mit der Schule. (So drückten sich eigentlich die Schüler aus, wenn sie ihren Schulabschluss meinten.)

      Dann könnte er noch 35 Jahre lang seine Pension genießen. Aber würde ihn das wirklich ausfüllen? Tagelang immerzu irgendwo in einem Café sitzen und langsam älter werden? Würde ihm nicht der ganze Schulbetrieb fehlen?

      Oder war der heutige Tag ein Auftakt für eine radikale Änderung? Hatte heute bereits sein neues Leben als Pensionär begonnen? Denn er hatte ja beschlossen, auf jeden Fall morgen auch noch zu fehlen. Und was war mit Übermorgen?

      Da war Freitag. Es wäre also günstig, wenn sein Hausarzt ihn einfach bis zum Ende der Woche krankschreiben würde. Und am Sonntagabend könnte er sich dann entscheiden, wie es weiterginge.

      Erich erschrak. Wieso machte er sich darüber Gedanken? Ursprünglich war es doch klar, dass er baldmöglichst wieder in die Schule zurückkehren würde. Womit alles wieder beim Alten wäre. Wieso also zweifelte er jetzt daran?

      Zweifelte er daran? Und würde wirklich alles wieder beim Alten sein? Oder würde einiges anders sein? Warum dachte er jetzt darüber nach? Warum hatte er all die Jahre darüber nie nachgedacht?

      Mit einem Mal spürte er, dass er ganz gelassen war: Es hatte sich etwas geändert. Es würde etwas anders sein – ganz gleich, wie er sich am Montag entscheiden würde.

      Was würde passieren, wenn er von nun an nie mehr in die Schule ginge? Er würde eine Menge Ärger kriegen. Und letztendlich keine Pension mehr. War es das wert?

      Was war es wert? Was war dieses »das«? Was war denn geschehen? Er war an der Schule vorbeigefahren und nicht zum Unterricht erschienen. Einmal, das erste Mal in seinem Lehrerleben. Sonst nichts.

      Am Montag, wenn er seinen Unterricht fortführen würde wie bisher, wäre alles wieder im Lot. Mal abgesehen davon, was Hülya in der Schule verbreiten würde, könnte alles dann wieder so weitergehen wie bisher. Oder nicht?

      Donnerstag

      05

      An diesem Morgen besuchte Hülya mal wieder die Schule. Auch, weil sie sehen wollte, ob Hoofeller da war oder weiterhin schwänzte. Weil sie am Tag davor selbst nicht anwesend war, konnte sie dies nicht wissen: Hoofeller hatte sich bis zum Ende der Woche krankgemeldet und stand deshalb auf dem Vertretungsplan.

      So fiel heute die erste Stunde aus. Verärgert saß Hülya nun im leeren Klassenraum und brummte vor sich hin: »Da kommt man mal pünktlich zur Schule und keiner ist da.«

      Nach und nach tauchten ihre Mitschüler auf. Einige überrascht, dass sie schon so früh da war. Andere registrierten sie nicht weiter. Sie waren es gewohnt, dass Hülya immer mal wieder ein bis zwei Tage wegblieb. Oder auch nach ein paar Stunden Unterricht verschwand. Trotzdem schaffte dieses Mädchen es immer wieder, fast überall mindestens ausreichende Zensuren zu erzielen. Jedenfalls war sie bisher nicht einmal sitzen geblieben.

      Viele empfanden es als ärgerlich, dass Hülya nach Belieben kam und ging, und dies offenbar keine Folgen hatte. Niemand in der Klasse glaubte ernsthaft an die Echtheit von Hülyas Entschuldigungen. Die meisten waren überzeugt, dass die Unterschriften von Hülya selbst stammten. Auch wenn die Klassenlehrerin, Frau Schreyhals, immer wieder betonte, der Vater habe die Entschuldigungen bestätigt.

      Nur wenige in der Klasse hatten etwas gegen Hülya. Sie galt als sympathisch, hilfsbereit (wenn sie mal da war), und hielt sich aus den meisten Streitigkeiten heraus.

      Einmal wäre Hülya beinahe Klassensprecherin geworden. Sie ließ ihre Nominierung als Kandidatin zu, um ihre Beliebtheit in der Klasse zu testen. Wirklich Klassensprecherin zu werden hatte sie nie vor. Sie war überrascht von der Stimmenzahl, die sie bekam. Sie hatte tatsächlich die Wahl gewonnen, lehnte dann aber ab und verärgerte damit ihre Mitschüler. Zumal nun Musterschüler Urban zum Klassensprecher wurde.

      Der hatte hinter Hülya die meisten Stimmen erhalten. Und als nach Hülyas spontanem Verzicht erneut gewählt wurde, reichte es für einen knappen Sieg Urbans. Inzwischen waren die meisten Schüler längst der Meinung, dass dies eine schlechte Wahl war. Denn fast alle Lehrer hatten zwar etwas für Urban übrig, das kam aber niemals der Klasse zugute.

      Für Urban war es wichtig voranzukommen. Und weil für ihn der Zweck die Mittel heiligte (diesen Spruch hatte er oft drauf), durfte das auch mal auf Kosten von Mitschülern gehen. Er galt zwar als übermäßig intelligent und das Lernen fiel ihm leicht. Aber er verachtete die meisten anderen Schüler und ließ sie das auch spüren.

      Mit einer Ausnahme: Viktor war zwar der schlechteste Schüler der Klasse, und hielt vom Lernen überhaupt nichts. Vielleicht konnte er auch gar nicht lernen. So war dieses Schuljahr nicht das erste, das er wiederholte. Doch Viktor war ausgesprochen kräftig. »Im Kopf herrscht starkes Minus, aber im Körper viel Plus«, hatte Urban einmal über ihn gesagt, »Und deshalb ist er genau der richtige für mich.«

      Ursprünglich war Viktor ein Einzelgänger und hielt sich für einen Einzelkämpfer. Ohne zu wissen, wofür oder wogegen er eigentlich kämpfte. Als Urban neu in die Klasse kam, hatte Viktor sofort ein Auge auf ihn geworfen. Er begann ihn heimlich anzuhimmeln.

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