Die Brüder Karamasow. Fjodor Dostojewski
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Die Brüder Karamasow - Fjodor Dostojewski страница 39
»Jetzt«, sagte Aljoscha, »kenne ich die erste Hälfte dieses Vorganges.«
»Die erste Hälfte verstehst du jetzt, das ist ein Drama, und es hat sich dort abgespielt. Die zweite Hälfte aber ist ein Trauerspiel und wird sich hier abspielen.«
»Von der zweiten Hälfte verstehe ich bis jetzt noch nichts«, sagte Aljoscha.
»Und ich? Verstehe ich es etwa?«
»Einen Augenblick, Dmitri, da ist noch ein wichtiger Punkt. Du bist doch ihr Bräutigam, auch jetzt ihr Bräutigam?«
»Ihr Bräutigam wurde ich nicht gleich, sondern erst drei Monate nach dem damaligen Ereignis. Am nächsten Tag sagte ich mir: Der Fall ist nun beendigt und erledigt, eine Fortsetzung wird es nicht geben. Hingehen und ihr einen Heiratsantrag machen – das erschien mir gemein. Sie ihrerseits ließ während der ganzen sechs Wochen, die sie noch in der Stadt blieb, kein Sterbenswörtchen von sich hören. Allerdings mit einer einzigen Ausnahme. Einen Tag nach ihrem Besuch schlüpfte das Dienstmädchen ihrer Familie zu mir und überreichte mir wortlos ein Kuvert. Auf dem Kuvert stand meine Adresse: Herrn Soundso. Ich öffnete es, es war das Geld, das von den fünftausend Rubeln übriggeblieben war. Man hatte nur viertausendfünfhundert Rubel gebraucht, doch bei dem Verkauf des Wertpapiers über fünfhundert Rubel war ein Verlust von mehr als zweihundert Rubel entstanden. So schickte sie mir nur zweihundertsechzig Rubel, glaube ich, genau erinnere ich mich nicht, und zwar nur das Geld – keine Zuschrift, kein Wörtchen, keine Erklärung. Ich suchte in dem Kuvert irgendeine Bleistiftnotiz – nichts! Nun gut, ich lebte dann für die mir verbliebenen Rubel toll drauflos, so daß sich auch der neue Major schließlich genötigt sah, mir einen Verweis zu erteilen. Der Oberstleutnant hatte das Staatsgeld jedenfalls ordnungsgemäß abgeliefert – zur allgemeinen Verwunderung, da kein Mensch mehr geglaubt hatte, daß er das Geld noch besaß. Nachdem er es abgeliefert hatte, fing er an zu kränkeln, mußte sich hinlegen und lag etwa drei Wochen. Dann trat eine Gehirnerweichung ein; und in fünf Tagen war er tot. Er wurde mit militärischen Ehren begraben, da er seinen Abschied noch nicht bekommen hatte. Katerina Iwanowna, ihre Schwester und ihre Tante verzogen zehn Tage nach der Beerdigung nach Moskau. Und da erhielt ich ganz kurz vor ihrem Umzug, am Tag ihrer Abreise – ich hatte die Damen nicht gesehen und sie nicht begleitet – ein winziges Kuvert. Es enthielt ein bläuliches Blatt Briefpapier mit Spitzenrand und darauf nur eine Zeile mit Bleistift: ›Ich werde Ihnen schreiben: warten Sie! K.‹ Das war alles.
Das übrige werde ich dir jetzt mit wenigen Worten erklären. In Moskau änderten sich ihre Verhältnisse sehr schnell, unerwartet wie in einem arabischen Märchen. Die Generalin, ihre wichtigste Verwandte, hatte plötzlich gleichzeitig ihre beiden nächsten Erbinnen, zwei Nichten, verloren; beide waren in derselben Woche an Pocken gestorben. Die erschütterte alte Dame freute sich über Katja wie über eine leibliche Tochter, wie über einen Rettungsstern, klammerte sich an sie und änderte sofort ihr Testament zu Katjas Gunsten. Und da dies erst für die Zukunft Wert hatte, händigte sie ihr augenblicklich achtzigtausend Rubel aus. ›Hier hast du eine Mitgift‹, sagte sie, ›mach damit, was du willst!‹ Ein hysterisches Weib; ich habe sie später in Moskau beobachtet. Na, da bekomme ich nun einmal durch die Post viertausendfünfhundert Rubel zugeschickt; selbstverständlich war ich vor Verwunderung sprachlos. Drei Tage darauf kam auch der versprochene Brief. Ich besitze ihn jetzt noch; ich trage ihn immer bei mir und werde mit ihm sterben – soll ich ihn dir zeigen? Du mußt ihn unbedingt lesen! Sie bietet sich mir als Braut an, ganz von selbst. ›Ich liebe Sie sinnlos!‹ schreibt sie. ›Wenn Sie mich auch nicht lieben, ganz gleich, werden Sie mein Mann! Fürchten Sie sich nicht; ich werde Sie in keiner Hinsicht behindern, ich werde Ihr Möbel sein, ich werde der Teppich sein, über den Sie hinwegschreiten. Ich will Sie lebenslänglich lieben, will Sie vor sich selbst retten ... Aljoscha, ich bin nicht würdig, diese Zeilen mit meinem gemeinen Worten wiederzugeben, mit meinem gemeinen Ton, meinem stets gemein klingenden Ton, den ich niemals habe verbessern können! Dieser Brief hat mich bis auf den heutigen Tag tief beeindruckt, und ist mir etwa jetzt leicht ums Herz, ist mir etwa heute leicht ums Herz? Damals schrieb ich sogleich eine Antwort; es war mir einfach nicht möglich, nach Moskau zu fahren. Unter Tränen schrieb ich diese Antwort, und über eines werde ich mich lebenslänglich schämen! Ich erwähnte, daß sie jetzt eine Mitgift habe und reich sei, ich dagegen nur ein armer ungebildeter Mensch – ich erwähnte das Geld! Ich hätte diese Bemerkung unterdrücken sollen, doch sie kam mir unwillkürlich in die Feder. Dann schrieb ich gleich an Iwan nach Moskau und setzte ihm alles nach Möglichkeit auseinander, der Brief war sechs Seiten lang. Kurz, ich schickte Iwan zu ihr. Warum machst du solche Augen, warum siehst du mich so an? Na ja, Iwan verliebte sich in sie, ist auch jetzt in sie verliebt, das weiß ich. Ich habe eine Dummheit gemacht nach eurer Ansicht, nach der Ansicht der Welt, aber vielleicht wird gerade diese Dummheit jetzt das einzige sein, was uns alle rettet! Siehst du nicht, wie sie ihn achtet, wie hoch sie ihn schätzt? Kann sie denn, wenn sie uns beide miteinander vergleicht, so einen wie mich lieben, und noch dazu nach allem, was hier vorgefallen ist?«
»Ich bin aber davon überzeugt, daß sie gerade so einen wie dich liebt und nicht so einen wie ihn.«
»Sie liebt ihre Tugend, nicht mich«, entfuhr es Dmitri Fjodorowitsch unwillkürlich und beinahe zornig. Er lachte auf, doch eine Sekunde später fingen seine Augen an zu funkeln, sein ganzes Gesicht rötete sich, und er schlug heftig mit der Faust auf den Tisch.
»Ich schwöre, Aljoscha«, rief er mit schrecklichem aufrichtigem Zorn auf sich selbst, »ob du es glaubst oder nicht – so wahr Gott heilig und Christus unser Herr ist, schwöre ich: Obgleich ich soeben über ihre höchsten Gefühle gelächelt habe, weiß ich doch, daß meine Seele millionenmal niedriger ist als ihre, daß ihre Gefühle aufrichtig und echt sind wie bei einem Engel des Himmels! Darin liegt eben die Tragik, daß ich das sehr genau weiß. Was tut es denn, wenn der Mensch ein bißchen pathetisch redet? Tue ich das denn nicht auch? Und doch bin ich aufrichtig, ganz aufrichtig. Was Iwan betrifft, so verstehe ich vollkommen, mit welcher Wut ihn jetzt diese Laune der Natur erfüllen muß, und noch dazu bei seinem Verstand! Wem ist der Vorzug gegeben worden? Einem Unmenschen, der auch hier, obwohl er schon Bräutigam ist und alle ihn beobachten, sein wüstes Leben nicht aufgeben kann – und noch dazu vor den Augen seiner Braut! Und doch wird so einem Menschen wie mir der Vorzug gegeben, und er wird verschmäht. Und warum eigentlich? Weil das Mädchen aus Dankbarkeit ihrem Leben und ihrem Schicksal Gewalt antun will. Eine Torheit! Ich habe zu Iwan nie in diesem Sinne gesprochen, und Iwan hat selbstverständlich zu mir ebenfalls darüber kein Wort gesagt, nicht die leiseste Andeutung gemacht, das Schicksal wird sich jedoch vollenden, und der Würdige wird den ihm gebührenden Platz einnehmen, der Unwürdige aber wird sich lebenslänglich in einer Gasse verbergen, in seiner schmutzigen Gasse, die ihm lieb ist, in der er sich heimisch fühlt; und dort, in Schmutz und Gestank, wird er freiwillig und mit Genuß zugrunde gehen. Ich habe da allerlei dahergeschwatzt, lauter abgenutzte Worte, die ich so aufs Geratewohl hinwerfe. Aber wie ich es bestimmt habe, so mag es geschehen: Ich werde in der Gosse untergehen, und sie wird Iwan heiraten.«
»Warte mal, Bruder«, unterbrach ihn Aljoscha, erneut aufs höchste beunruhigt. »Du hast mir einen Punkt bis jetzt noch nicht erklärt. Du bist ihr Bräutigam, und wie willst du mit ihr brechen, wenn sie, die Braut, es nicht will?«
»Ich bin ihr Bräutigam, ihr legitimer Bräutigam. Die Verlobung fand in Moskau gleich nach meiner Ankunft statt, mit Gepränge, mit Heiligenbildern und allem Drum und Dran. Die Generalin segnete uns, und – ob du es glaubst oder nicht – sie beglückwünschte Katja sogar: ›Du hast eine gute Wahl getroffen‹, sagte sie. ›Ich durchschaue sein ganzes Wesen.‹ Und wirst du es glauben – unseren Iwan hat sie nicht liebgewonnen und nicht beglückwünscht. Noch dort in Moskau habe ich mit Katja über vieles gesprochen, ich habe ihr alles über mich erzählt, ehrenhaft genau und aufrichtig. Sie hörte alles an.
Und in lieblicher Verwirrung
sagte sie manch zärtlich Wort