Handbuch der Europäischen Aktiengesellschaft - Societas Europaea. Hans-Peter Schwintowski
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Die Idee, die wirtschaftliche Zusammenarbeit von Unternehmen verschiedener Mitgliedstaaten, bestehenden oder neu zu gründenden, über die Grenzen hinweg in festen Rechtsformen zu ermöglichen, wurde in dieser Zeit, wohl angeregt durch Initiativen wie SAARLOR, geboren. Auf dem 57. Kongress französischer Notare 1959 in Tours sprach sich Thibierge für eine solche Rechtsform aus, für ein „statut des sociétés étrangères“.[3] Im selben Jahr, am 22.10.1959, erregte der niederländische Professor Sanders mit seiner Antrittsvorlesung an der Wirtschaftshochschule Rotterdam und seinem Plädoyer für eine – wie er sie sprachübergreifend nannte – „societes europea“, kurz „SE“, die Aufmerksamkeit interessierter Kreise.[4] Die deutsche „Gesellschaft für Rechtsvergleichung“ stellte den Gedanken auf ihrer Trierer Tagung 1961 zur Diskussion, nachdem die Anregung in Wirtschaftskreisen bereits lebhaft erörtert wurde. Die Professoren Duden, Mannheim und Marty, Toulouse, hielten die Referate. 1962 erarbeitete der französische Industrieverband ein „Statut für Aktiengesellschaften“ mit 194 Artikeln.
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Die Wirtschaft jedoch war rascher. Sie beschritt 1964 als erste durch die wirtschaftliche Verschmelzung zweier nationaler AGs verschiedener Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft den Weg hin zu einer wirklichen „Europäischen AG“. Wie so oft „schuf sie sich ihr Recht selbst“, wie Großmann-Doerth dies ehemals nannte: Die wachsende Konkurrenz der amerikanischen Firma KODAK zwang die deutsche AG AGFA, Leverkusen, zum Zusammenschluss mit der belgischen AG GEVAERT, Antwerpen. Nur durch die Bündelung der wirtschaftlichen Kräfte konnten sich die beiden, auf kleinere Märkte zugeschnittenen Unternehmen im Wettbewerb behaupten. Erleichtert wurde dieser Zusammenschluss durch den Umstand, dass sich beide Gesellschaften in ihren Produktprogrammen ergänzten: Die belgische Firma produzierte zu 65 % industrielle Photopapiere und zu 35 % Amateurphotozubehör, die deutsche im umgekehrten Verhältnis.
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Dieser Wunsch, geboren aus wirtschaftlicher Notwendigkeit, bestehende Unternehmen verschiedener Mitgliedstaaten über die Grenzen hinweg zu neuen, den wirtschaftlichen Bedingungen angepassten, konkurrenzfähigen Einheiten zu verschmelzen, war und ist bis heute die treibende Kraft hinter den Bemühungen um die „Europäische AG“. Die grenzüberschreitende Fusion, wie sie im EWG-Vertrag von 1957 in Art. 220 3. Spiegelstrich vorgesehen war, bedeutete zwangsläufig die Übernahme einer ausländischen Gesellschaft in die eigene Rechtsordnung und umgekehrt.
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Die geniale Konstruktion der „Fusion“ AGFA/GEVAERT, unvergesslich verbunden mit dem Namen des Chefsyndikus der Bayer AG, Silcher, war Folgende: AGFA, eine hundertprozentige Tochtergesellschaft der Bayer AG, und GEVAERT S. A., zu 35 % in Familien-, zu 65 % in Streubesitz, gründeten jeweils in ihrem Land eine AG eigenen Rechts, an der beide fortbestehenden Gründergesellschaften zu je 50 % beteiligt wurden. Als Firma wurde für die in Belgien errichtete société anonyme die Bezeichnung GEVAERT-AGFA S. A., für die in Deutschland gegründete AG AGFA-GEVAERT AG gewählt. Sitz der belgischen Gesellschaft war Antwerpen, der der deutschen Leverkusen. Die Leitungsorgane beider Gesellschaften waren identisch: Dem belgischen „conseil d'administration“ entsprach der deutsche Vorstand. Natürlich stand neben diesem ein Aufsichtsrat, in dem die Belgier mit zwei Herren vertreten waren. Beide Führungsgremien waren paritätisch besetzt. Anfänglich arbeiteten die leitenden Herren einen Monat in Antwerpen, einen Monat in Leverkusen. Grund für diese sorgfältig austarierte Gleichheit war die Sorge, die belgische oder die deutsche Presse könnten von einem „Geschlucktwerden“ der eigenen Gesellschaft durch die des Nachbarlandes sprechen – ein psychologisches Moment, das bei dem damaligen Stand der europäischen Integration peinlich zu beachten war und das ja noch heute bei Verschmelzungen wie der der Hoechst AG mit Rhône-Poulenc S.A. in AVENTIS nicht außer Acht gelassen wurde und werden konnte. Die schlichte Übernahme von Mannesmann durch Vodafone hat einen bitteren Geschmack hinterlassen.
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Nach Jahren wirtschaftlicher Erfolge des neuen Unternehmens hob die Gesellschaft diese sorgfältige Ausbalancierung allmählich auf: Führungspersönlichkeiten wurden mehr und mehr Belgier, der Doppelname verschwand, die „fusionierte Gesellschaft“ wurde weltweit nur noch AGFA-GEVAERT genannt.
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Von besonderem Interesse war natürlich die Mitbestimmung, der der deutsche Teil des Gesamtunternehmens selbstverständlich unterworfen war. Im (deutschen) Aufsichtsrat saßen Arbeitnehmervertreter der AGFA-GEVAERT AG. Die Frage, ob dieser Umstand die belgische Seite zur Zurückhaltung, insbesondere hinsichtlich der Informationsmöglichkeiten der deutschen Arbeitnehmervertreter gegenüber dem belgischen Teil des Gesamtunternehmens, veranlasst hätte, wurde bei den Gesprächen der Kommission mit den leitenden Herren lächelnd verneint. Was denn bei der ganzen Konstruktion als hinderlich empfunden wurde? Die Unterschiedlichkeit der Bilanzvorschriften und der Steuerrechte.
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Auf die politische Ebene wurde der bisher privat verfochtene Gedanke einer europäisch konzipierten Gesellschaft gehoben, als die französische Regierung am 15.3.1965 eine Note an die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft richtete, in der sie zur Schaffung des „Statuts europäischer Gesellschaften“ den Abschluss eines Staatsvertrags mit integriertem Einheitsgesetz (loi uniforme) vorschlug. Die Kommission, vornehmlich in der Person des zuständigen Kommissars von der Groeben, unterstützt von ihrem Präsidenten Hallstein, griff die französische Initiative auf. Sie erarbeitete eine „Denkschrift über die Schaffung einer europäischen Handelsgesellschaft“[5], in der sie die Grundprobleme der Erstreckung der Tätigkeit von Gesellschaften auf dem gesamten Gemeinsamen Markt und der Ermöglichung der Bildung größerer Unternehmen sowie deren rechtliche Lösungsmöglichkeiten durch Schaffung einer europäischen Handelsgesellschaft erörterte. Gleichzeitig beauftragte sie Professor Sanders, Niederlande, mit der Ausarbeitung des „Vorentwurfs eines Statuts für europäische Aktiengesellschaften“ und stellte ihm eine Gruppe von Sachverständigen aus den übrigen fünf Mitgliedstaaten zur Seite: Arendt, Luxemburg, von Caemmerer, Deutschland, Dabin, Belgien, Marty, Frankreich, und Minervini, Italien. In der Kommission lag die Zuständigkeit für die Begleitung dieser Arbeit und deren sachliche wie finanzielle Unterstützung bei der Generaldirektion „Wettbewerb“, Direktion „Rechtsangleichung“, für die das Kommissionsmitglied von der Groeben politisch verantwortlich war.[6] Der Verfasser dieses Beitrags, Taschner, war einer der beiden Referenten für dieses Vorhaben sowie für die spätere Ausarbeitung des Verordnungsvorschlags von 1970. Die genannten Arbeiten wurden in weniger als Jahresfrist abgeschlossen.
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Der „Vorentwurf“[7] ist die Ausarbeitung eines – materiell gesehen – umfassenden Gesetzes über eine neue, eigenständige Rechtsform, die der „Europäischen AG“, zur Regelung aller für diese Gesellschaftsform auftretenden Fragen in 13 Titeln einschließlich steuer- und strafrechtlicher Skizzierungen. Dieses „Gesetz“ enthält ein sehr detailliertes Gesellschaftsrecht, beschränkt auf bereits seit drei Jahren bestehende nationale AG als Gründer mit dem Ziel, deren wirtschaftlichen und rechtlichen Zusammenschluss über die Grenze hinweg in der einen oder der anderen Form zu ermöglichen. Der primäre Zweck und damit auch die Rechtfertigung einer „europäischen“ Vokation war selbstverständlich die Fusion zweier oder mehrerer AG verschiedener Mitgliedstaaten, also die im EWG-Vertrag in Art. 220 3. Spiegelstrich ursprünglicher Zählung in Aussicht genommene „Möglichkeit der Verschmelzung von