Münchhausen. Karl Immermann

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Münchhausen - Karl  Immermann

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      Karl Immermann

      MÜNCHHAUSEN

      Eine Geschichte in Arabesken

      ERSTER TEIL 

      Erstes Buch. Münchhausens Debüt

      Eilftes Kapitel

Worin der Freiherr seinen Abscheu vor dem Laster des Lügens nicht allein ausspricht, sondern auch betätigt

      »Was für ein schändliches Laster ist das Lügen! Denn erstens kommt es leicht heraus, wenn einer zu arg flunkert, und zweitens kann jemand, der sich‘s angewöhnt hat, auch einmal die Wahrheit sprechen, und keiner glaubt sie ihm dann.

      Daß mein Ahnherr, der Freiherr von Münchhausen auf Bodenwerder einmal in seinem Leben die Wahrheit sagte, und niemand ihm glauben wollte, das hat bei dreihundert Menschen das Leben gekostet.«

      »Wie?« riefen der Baron und seine Tochter aus einem Munde.

      »Geschätzte Freunde und liebe Wirte, mäßiget Euer Erstaunen«, versetzte der Gast, indem er, wie ein Kaninchen, die Nasenflügel zitternd bewegte, und mit den doppelfarbigen Augen zwinkerte. »Nichts natürlicher, als das. Hört nur zu. Der besagte Ahnherr war leider Gottes, wie Ihr wißt, ein ungemeiner und erschrecklicher Lügensack. Wer erinnert sich nicht der zwölf Enten, die er mit einem Stücke Schinkenspeck fing, nicht seines halbierten Rosses, welches in diesem Zustande der Halbheit dennoch eine Nachkommenschaft zu erzielen vermögend war, nicht des tollgewordnen Jagdpelzes, nicht der im Posthorn eingefrornen Töne, und — und — o! o! o! — —«

      Das blaue Auge des Enkels weinte, sein braunes blitzte von tugendhaftem Zorne, er konnte nicht weiterreden. Dem alten Baron und seiner Tochter gelang es endlich, ihn zu beruhigen. Der edle Redner schluchzte noch ein weniges, dann fuhr er so fort: »Es ist meiner Treu recht schlecht von mir, daß ich von meinem in Gott ruhenden Ahnherrn Übles rede, aber ehrlich währt am längsten. Dieser Mensch und Lügner hat die historische Wahrheit auf Jahrhunderte hin vergiftet, und die nachgebornen Geschlechter gewissermaßen unter die Botmäßigkeit jedes Irrwahns gegeben, der seitdem in der Welt auftrat. Ja, um mich eines Gleichnisses aus einer seiner abgeschmackten Fabeln zu bedienen, es erging der Menschheit nachmals mit jedem falschen Propheten wie dem Bären, den der Ahnherr an die honigbeschmierte Wagenstange lockte, und der sich durch und durch auf selbige hinaufleckte. Denn es mochte den Leuten etwas noch so Unglaubliches vorgeschwätzt werden, sie riefen immer: »Das muß wahr sein; Münchhausen hat ganz andre Sachen erfahren!« So leckten sich die Leute vor fünfzig bis sechzig Jahren auf den Eiszapfen der Aufklärung hinauf, und als sie mit Mühe und Not von diesem wieder heruntergeschroben waren, und die grimmige Erkältung noch in ihren Eingeweiden rasselte, da kamen die Franzosen und hielten ihnen den Freiheitsbaum vor, mit einer Mischung von Sirup und Kognak bestrichen, und die Narren leckten wieder so tapfer darauf los, daß sie bald alle mit Schmerzen an dem stachlichten Stamme festsaßen, und Napoleon mit leichter Mühe sie daran hinter sich herziehen konnte. Nun, diese Begeisterung nahm denn endlich auch ein Ende mit Schrecken und gegenwärtig...«

      »Gegenwärtig?« fragte der Baron erwartungsvoll. »Gegenwärtig«, versetzte der Freiherr bedächtig, »werden so viele und verschiedenartige Stangen, Bäume und Zapfen, worunter sich auch einige Eisenschienen befinden, mit Honig bestrichen, daß sich noch nicht entscheiden läßt, welches dieser Fangmittel die meisten zu fesseln imstande sein werde.«

      »Aber das Wort der Wahrheit, durch welches Ihr Ahnherr an die dreihundert Menschen tötete!« rief das Fräulein Emerentia sanft und dringend.

      »Recht so, meine Gnädige«, erwiderte der Freiherr. »Allegorie und Phantasiespiele sind aus der Mode, gehören der Ramlerschen Zeit an; »Stoff! Stoff! Stoff!« ruft die nach Realitäten hungrige Welt. Hier ist der meinige. Münchhausen, der Ahnherr, war trotz seines greulichen Lasters eine seltenbegabte Natur. Er hatte mit Cagliostro in Verbindung gestanden, zu seiner Zeit Gold gemacht, von der Sorte, die man Knallgold nennt, man versicherte, er höre, nicht im figürlichen, sondern im buchstäblichen Sinne, das Gras wachsen, kurz, er hatte tiefe Blicke in so manches Naturgeheimnis getan. Besonders war an ihm ein scharfes Ahnungsvermögen für eigne Körperzustände ausgebildet worden, und alles, was nachmals in diesem Betreff von nervösen oder somnambülen Personen erzählt worden ist, war Kleinigkeit gegen das, was glaubwürdige Gewährsmänner mir von ihm berichtet haben. Er wußte an sich selbst jede Befindensveränderung, wie die Homöopathen die Krankheiten nennen, vorauszuspüren, und trug, sozusagen, seine ganze somatische Zukunft, im Geruch vorgebildet, mit sich umher. Daß einer merkt, wenn ein Schnupfen bei ihm im Anzug ist, will nicht viel bedeuten; aber durch den Schnupfen hindurch die späteren Übel, die ihn noch betreffen sollen, zu merken, ist allerdings nicht jedem gegeben. »Theophilus«, sagte der Ahnherr eines Tages zu dem Manne, der mein Vater vor der Welt heißt, »Theophilus, ich kriege morgen einen rechtschaffenen Schnupfen, wenn der vorüber ist, gibt‘s ein kaltes Fieberchen, und darnach wird der Rest der bösen Schärfe als Podagra in den rechten Fuß fahren.« Und richtig, so kam es. Er hatte durch den Schnupfen hindurch das kalte Fieber, durch dieses hindurch das Podagra an sich abgewittert.

      Sie haben gewiß von jenem südamerikanischen Indianerstamme im Gebiete Apapurincasiquinitschchiquisaqua gehört?«

      »A... pa... pu... rin...« buchstabierte der alte Baron. »Jawohl, jawohl haben wir von diesem Stamme gehört«, fuhr er nach einigem Besinnen fort. »Wer sollte auch davon nicht gehört haben!«

      »Apapurincasiquinitschchiquisaqua«, flüsterte das Fräulein schwärmerisch vor sich hin.

      »Dieser Indianerstamm«, sagte der Freiherr, »wohnt dreiundsechzigdreiviertel Meilen südlich vom Äquator auf einem Bergplateau zweitausendfünfhundert Fuß über der Meeresfläche. Von den schneeigten Piks der Cordilleras rings geschützt, leben jene Menschen ein einfaches Ur- und Naturleben hin. Nie suchte die Habsucht und Grausamkeit der Konquistadoren sie hinter ihren beschirmenden Felsenwällen heim. Bäume gibt es nicht auf Apapurincasiquinitschchiquisaqua wegen seiner hohen Lage, aber unendliche Flächen dehnen sich an den sonnebeschienenen Abhängen der Piks aus, smaragdgrün von einer Grasart, in deren breiten, fächerartigen Blättern der Westwind, welcher da beständig weht, ein melodisches Säuseln zu erwecken nicht müde wird. Zahlreiche Herden von pfirsichblütenen Kühen und Stieren, (so lieblich scherzt dort die Natur in Farben) weiden in den grünen Grasweiden; die feurigen Kälber sind goldgelb, erst nach und nach nehmen sie jenen kälteren Farbenton an. Dieses Rindvieh ist der einzige Reichtum der unschuldigen Apapurincasiquinitschchiquisaquaner. Sie leben fast nur von der sauren oder sogenannten Schlippermilch, welche ihre schönen Jungfrauen, vom Antlitz bis zu den Fußknöcheln tätowiert, mit den feinen, rot- und gelbbemalten Fingern den strotzenden Eutern der Kühe entziehn.«

      »Ihr himmlischen Mächte, wie reizend!« sagte das Fräulein, in Gefühl schwelgend.

      »Das heißt«, erinnerte der Baron, und rieb sich die Stirn, »aus den Eutern gewinnen sie süße Milch, und nachher machen sie den sauren Schlipper daraus.«

      »Nein!« antwortete der Freiherr. »Der saure Schlipper kommt auf jenem glücklichen Bergplateau von der Kuh, und nur, wenn er lange gestanden hat, und dem Zustande der Verderbnis sich nähert, dann geht er in Süßigkeit über.«

      »Hm! Hm! Hm! Ja... aber — —« murmelte der Alte und schüttelte den Kopf.

      »Erstaunen Sie nicht, hören Sie mich ruhig aus. Ist nicht alles Ursprüngliche sauer? Wie schmeckt die wilde und unverbildete Kastanie? Kannst du in den jugendgrünen Apfel beißen, ohne das Gesicht verzerren zu müssen, oder in die kindliche harte Pflaume? Geben Trauben, die der buhlerische Strahl der Sonne noch nicht um ihre Unschuld betrog, etwas anderes, als Essig? Pindar singt: Das Fürnehmste ist Wasser; ich aber sage: Das Ursprüngliche ist sauer.«

      »O, das Ursprüngliche!«

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