Frau Bovary. Gustave Flaubert

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Frau Bovary - Gustave Flaubert

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und sich selber ganz wie einst, wie sie in der Milchkammer mit den Fingern die Milch in den Schüsseln abrahmte. Aber im Strahlenglanz der gegenwärtigen Stunde starb die eben noch so klare Erinnerung an ihr früheres Leben schnell wieder; es je gelebt zu haben, kam ihr fast unmöglich vor. Hier, hier lebte sie, und was über diesen Ballsaal hinaus existieren mochte, das lag für sie im tiefsten Dunkel …

      Sie schlürfte von dem Maraschino-Eis, das sie in einer vergoldeten Silberschale in der Hand hielt, wobei sie die Augen halb schloß und den goldnen Löffel lange zwischen den Zähnen behielt. Neben ihr ließ eine Dame ihren Fächer zu Boden gleiten. Ein Tänzer ging vorüber.

      „Sie wären sehr gütig, mein Herr,“ sagte die Dame, „wenn Sie mir meinen Fächer aufheben wollten. Er ist unter dieses Sofa gefallen.“

      Der Herr bückte sich, und während er mit dem Arm nach dem Fächer langte, bemerkte Emma, daß ihm die Dame etwas weißes, dreieckig Zusammengefaltetes in den Hut warf. Er überreichte ihr den aufgehobenen Fächer ehrerbietig. Sie dankte mit einem leichten Neigen des Kopfes und barg schnell ihr Gesicht in den Blumen ihres Straußes.

      Nach dem Souper, bei dem es verschiedene Sorten von Süd- und Rheinweinen gab, Krebssuppe, Mandelmilch, Pudding à la Trafalgar und allerlei kaltes Fleisch, mit zitterndem Gelee garniert, begannen die Wagen einer nach dem andern vor- und wegzufahren. Wer einen der Musselinvorhänge am Fenster ein wenig beiseiteschob, konnte die Laternenlichter in die Nacht hinausziehen sehen. Es saßen immer weniger Tänzer im Saale. Nur im Spielzimmer war noch Leben. Die Musikanten leckten sich die heißen Finger ab. Karl stand gegen eine Tür gelehnt, dem Einschlafen nahe.

      Um drei Uhr begann der Kotillon. Walzer tanzen konnte Emma nicht. Aber alle Welt, sogar Fräulein von Andervilliers und die Marquise tanzten. Es waren nur noch die im Schlosse zur Nacht bleibenden Gäste da, etwa ein Dutzend Personen.

      Da geschah es, daß einer der Tänzer, den man schlechtweg „Vicomte“ nannte – die weitausgeschnittene Weste saß ihm wie angegossen – Frau Bovary zum Tanz aufforderte. Sie wagte es nicht. Der Vicomte bat abermals, indem er versicherte, er würde sie sicher führen und es würde vortrefflich gehen.

      Sie begannen langsam, um allmählich rascher zu tanzen. Schließlich wirbelten sie dahin. Alles drehte sich rund um sie: die Lichter, die Möbel, die Wände, der Parkettboden, als ob sie in der Mitte eines Kreisels wären. Einmal, als das Paar dicht an einer der Türen vorbeitanzte, wickelte sich Emmas Schleppe um das Bein ihres Tänzers. Sie fühlten sich beide und blickten sich einander in die Augen. Ein Schwindel ergriff Emma. Sie wollte stehen bleiben. Aber es ging weiter: der Vicomte raste nur noch rascher mit ihr dahin, bis an das Ende der Galerie, wo Emma, völlig außer Atem, beinahe umsank und einen Augenblick lang ihren Kopf an seine Brust lehnte. Dann brachte er sie, von neuem, aber ganz langsam tanzend, an ihren Platz zurück. Es schwindelte ihr; sie mußte den Rücken anlehnen und ihr Gesicht mit der einen Hand bedecken.

      Als sie die Augen wieder aufschlug, sah sie, daß in der Mitte des Saales eine der Damen auf einem Taburett saß, während drei der Herren vor ihr knieten. Der Vicomte war darunter. Er war der Bevorzugte. Und von neuem setzten die Geigen ein.

      Alle Blicke galten dem tanzenden Paare. Es tanzte einmal und noch einmal herum: sie regungslos in den Linien ihres Körpers, das Kinn ein wenig gesenkt; er in immer der nämlichen Haltung, kerzengerade, die Arme elegant gerundet, den Blick geradeaus gerichtet. Das waren Walzertänzer! Sie fanden kein Ende. Eher ermüdeten die Zuschauer.

      Nach dem Kotillon plauderte man noch eine kleine Weile. Dann sagte man sich „Gute Nacht“ oder vielmehr „Guten Morgen“, und alles ging schlafen.

      Karl schleppte sich am Treppengeländer hinauf. Er hatte sich „die Beine in den Bauch gestanden.“ Ohne sich zu setzen, hatte er sich fünf Stunden hintereinander bei den Spieltischen aufgehalten und den Whistspielern zugesehen, ohne etwas von diesem Spiel zu verstehen. Und so stieß er einen mächtigen Seufzer der Erleichterung aus, als er sich endlich seiner Stiefel entledigt hatte.

      Emma legte sich ein Tuch um die Schultern, öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus. Die Nacht war schwarz. Feiner Sprühregen fiel. Sie atmete den feuchten Wind ein, der ihr die Augenlider kühlte. Walzerklänge summten ihr noch in den Ohren. Emma hielt sich gewaltsam wach, um den eben erlebten Märchenglanz, ehe er ganz wieder verronnen, noch ein wenig zu besitzen …

      Der Morgen dämmerte. Sie schaute hinüber nach den Fensterreihen des Mittelbaues, lange, lange, und versuchte zu erraten, wo die einzelnen Personen alle wohnten, die sie diesen Abend beobachtet hatte. Sie sehnte sich darnach, etwas von ihrem Leben zu wissen, eine Rolle darin zu spielen, selber darin aufzugehen.

      Schließlich begann sie zu frösteln. Sie entkleidete sich und schmiegte sich in die Kissen, zur Seite ihres schlafenden Gatten.

      Zum Frühstück erschienen eine Menge Menschen. Es dauerte zehn Minuten. Es gab keinen Kognak, was dem Arzt wenig behagte.

      Beim Aufstehen sammelte Fräulein von Andervilliers die angebrochenen Brötchen in einen kleinen Korb, um sie den Schwänen auf dem Schloßteiche zu bringen. Nach der Fütterung begab man sich in das Gewächshaus, mit seinen seltsamen Kakteen und Schlingpflanzen, und in die Orangerie. Von dieser führte ein Ausgang in den Wirtschaftshof.

      Um der jungen Arztfrau ein Vergnügen zu bereiten, zeigte ihr der Marquis die Ställe. Über den korbartigen Raufen waren Porzellanschilder angebracht, auf denen in schwarzen Buchstaben die Namen der Pferde standen. Man blieb an den einzelnen Boxen stehen, und wenn man mit der Zunge schnalzte, scharrten die Tiere. Die Dielen in der Sattel- und Geschirrkammer waren blank gewichst wie Salonparkett. Die Wagengeschirre ruhten in der Mitte des Raumes auf drehbaren Böcken, während die Kandaren, Trensen, Kinnketten, Steigbügel, Zügel und Peitschen wohlgeordnet zu Reihen an den Wänden hingen.

      Karl bat einen Stallburschen, sein Gefährt zurechtzumachen. Sodann fuhr er vor. Das ganze Gepäck ward aufgepackt. Das Ehepaar Bovary bedankte und verabschiedete sich bei dem Marquis und der Marquise. Und heim ging es nach Tostes.

      Schweigsam sah Emma dem Drehen der Räder zu. Karl saß auf dem äußersten Ende des Sitzes und kutschierte mit abstehenden Ellbogen. Das kleine Pferd lief im Zotteltrab dahin, in seiner Gabel, die ihm viel zu weit war. Die schlaffen Zügel tanzten auf der Kruppe des Gaules. Gischt flatterte. Der Koffer, der hinten angeschnallt war, saß nicht recht fest und polterte in einem fort im Takte an den Wagenkasten.

      Auf der Höhe von Thibourville wurden sie plötzlich von ein paar Reitern überholt. Lachende Gesichter und Zigarettenrauch. Emma glaubte, den Vicomte zu bemerken. Sie schaute ihm nach, aber sie vermochte nichts zu erkennen als die Konturen der Reiter, die sich vom Himmel abhoben und sich im Rhythmus des Trabes auf und nieder bewegten.

      Wenige Minuten später mußten sie Halt machen, um die zerrissene Hemmkette mit einem Strick festzubinden. Als Karl das ganze Geschirr noch einmal überblickte, gewahrte er zwischen den Beinen seines Pferdes einen Gegenstand liegen. Er hob eine Zigarrentasche auf; sie war mit grüner Seide gestickt und auf der Mitte der Oberseite mit einem Wappen geschmückt.

      „Es sind sogar zwei Zigarren drin!“ sagte er. „Die kommen heute abend nach dem Essen dran!“

      „Du rauchst demnach?“ fragte Emma.

      „Manchmal! Gelegentlich!“

      Er steckte seinen Fund in die Tasche und gab dem Gaul eins mit der Peitsche.

      Als sie zu Hause ankamen, war das Mittagessen noch nicht fertig. Frau Bovary war unwillig darüber. Anastasia gab eine dreiste Antwort.

      „Scheren Sie sich fort“ rief Emma. „Sie machen sich über mich lustig. Sie sind entlassen!“

      Zu

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