Interviews Aus Dem Kurzen Jahrhundert. Marco Lupis
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Was bedeutet für Sie das Wort Vergebung?
Ich denke, es ist etwas absolut Persönliches, etwas, das für jedes Individuum etwas anderes bedeutet. Ich kann den Henkern meines Bruders nicht vergeben. Man könnte meinen, ich sei
rachsüchtig. Aber das stimmt nicht. Ich will keine Vergeltung.
Ich will einzig und allein die Wahrheit wissen.
9
Kenzaburo Oe
Literaturnobelpreis 1994
Der stille Schrei
Im Frühjahr 2001 hielt ich mich wegen einer Reihe von langer Hand geplanter Reportagen in Japan auf. In einem kleinen Dorf im äuÃersten Norden, dick vermummt, inmitten von Schneemassen sah ich dem maroden Autobus nach, der mich in dieses eisig kalte Fleckchen Erde auf dem japanischen Eiland gebracht hatte und der nun rasch davon fuhr und nichts als eine Fontäne von Schneematsch zurücklieÃ. Mir fielen die berühmten Worte von Bruce Chatwin ein: What Am I Doing Here?/Was tue ich hier?
Wie schon Tiziano Terzani schrieb «Man mag es kaum glauben, aber die Japaner sind davon überzeugt, dass sie auf ihrer Insel alles haben». Ich sollte mich persönlich davon überzeugen können, als ich wenig später im Distrikt Aomori auf einen höflichen Knoblauchbauern traf, den alle für einen direkten Nachkommen von Jesus Christus hielten ⦠den aus Nippon! [3] .
Einige Zeit zuvor wurde mir das Privileg zuteil, einen der gröÃten noch lebenden zeitgenössischen Literaten Japans, den Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Oe interviewen zu dürfen.
Der Autor von âGli anni della nostalgiaâ [A.d.Ã.: vermutlich Romantrilogie mit dem deutschen Titel âGrüner Baum in Flammen], und von âder stille Schreiâ, erklärte mir, warum seiner Meinung nach das Problem der Japaner seiner Epoche in der vergeblichen Suche nach der âRettung der menschlichen Seeleâ liegt.
*****
Nach seinem Literaturdebüt im Alter von zweiundzwanzig Jahren verging kein Monat, in dem Kenzaburo Oe, heute sechsundsechzigjährig, nicht an einem Roman arbeitete. Er wurde 1935 in einem kleinen Ort auf der Insel Shikoku im Südwesten Japans geboren, studierte Romanistik und machte an der Universität Tokyo seinen Abschluss in französischer Literatur. In seinen Werken hat er mit viel Mut Themen behandelt wie den Wahnsinn, die Grausamkeiten von Menschen an Menschen, die Angst vor einer unsichtbaren Realität. Sein Stil war immer direkt, klar, penetrierend. Indem er geschickt mit Formen und Ausdrucksformen jonglierte und sich einer enormen stilistischen Bandbreite bediente, die vom Grotesken bis zur Fabel und zum kompromisslosesten Realismus reichte, gelang es dem Autor des stillen Schreis
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