Interviews Aus Dem Kurzen Jahrhundert. Marco Lupis

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Interviews Aus Dem Kurzen Jahrhundert - Marco Lupis

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de Chile, März 1999 .

       «Pinochet? Für die Chilenen ist er wie ein Krebsgeschwür, ein Stück dunkle Vergangenheit, das sie male oscuro nennen..., etwas Schmerzhaftes. Etwas, von dem man weiß, dass man es hat, aber sich fürchtet, darüber zu reden, auch nur den Namen auszusprechen. Am Ende tut man so, als habe es ihn nie gegeben. Vielleicht, weil wir hoffen, dass wir durch Ignorieren erreichen, dass dieses Böse von selbst verschwindet, ohne dass wir ihm in die Augen schauen müssen...» Die junge Frau, die im Cafè El Biografo , einem Treffpunkt für Dichter und Studenten im malerischen Barrio von Bellavista in Santiago bedient, einem Künstlerviertel mit vielen alten Restaurants und farbenfrohen Häusern ist gerade mal etwas älter als Zwanzig. Vermutlich war sie nicht einmal geboren, als General Augusto Pinochet Ugarte, der “Senador vitalicio”, wie sie ihn hier nennen, befahl, seine Gegner “umzubringen, zu foltern und verschwinden zu lassen” – wie es die Familienangehörigen der über dreitausend Verschwundenen in die Welt hinausschreien - oder, wie seine Bewunderer es ausdrücken, während er mit eiserner Faust versuchte, Chile von der Bedrohung durch den internationalen Bolschewismus zu befreien. Sie will mir ihre persönliche Meinung zu Pinochet sagen und sie hat eine klare Vorstellung: «Pinochet ist hier allgegenwärtig. Egal, ob man pro oder contra ist, in jedem Detail des täglichen Lebens von Chile ist der General präsent. Natürlich in erster Linie in der Politik, klar. Aber auch im Gedächtnis aller, in den Erzählungen meiner Eltern, in den Vorträgen der Lehrer in der Schule. Und als Titelfigur in Romanen und Büchern... im Kino. Ja, auch im Kino. Hier in Chile kann man nur pro oder contra Pinochet sein. Und wir, wir tun so, als ob er nicht existieren würde...”.

       Tja, dieser eigensinnige ältere Herr, der «mit der Würde eines Soldaten» der britischen Justiz entgegentritt («...armer alter Mann» flüstert mir der Portier des “Circulo de la Prensa” ins Ohr, einem Ort, an dem die engstem Vertrauten des Senador vitalicio , in den dunklen Jahren der Militärdiktatur aufkreuzten, um unangenehme Journalisten “abzuholen“, direkt hinter dem Palast la Mondea, wo Salvador Allende starb, gejagt nach dem Staatsstreich des Generals), dieser “arme alte Mann” der mittlerweile im Chile des 21. Jahrhunderts zum sperrigen Koloss geworden ist, der mit seinem Umfang jedes Viertel, jeden Winkel, jede Gasse von Santiago füllt, der etwas unentschlossen wirkt, beinahe introvertiert.

       Aber er ist immer noch das lebende Gedächtnis dieses Landes, ein immenses, einschneidendes, unangenehmes Gedächtnis für seine Anhänger und nervig für seine Gegner und Kritiker. Ein Gedächtnis, das sich ausweitet, klebrig wie der gallertartige Blob [A.d.Ü. “The Blob“, US-amerikanischer Horrorfilm] und alles umschließt: Leben, Hoffnungen und Schmerzen – die Vergangenheit und die Zukunft der Chilenen.

      

      

       Pinochet wurde im Oktober 1998, wenige Monate nach seiner Abdankung als Chef des Heeres und eben Senator (auf Lebenszeit) geworden, festgenommen und unter Hausarrest gestellt, während er sich zu medizinischen Behandlungen in London aufhielt. Zunächst in der Klinik, in der er sich einer Rückenoperation unterzogen hatte und später in der von ihm angemieteten Residenz.

       Ein spanischer Richter, Baltasar Garzón hatte den internationalen Haftbefehl wegen völkerrechtswidrigen Verhaltens unterschrieben. Die Anklagepunkte umfassten annähernd einhundert Fälle von Folter zu Lasten spanischer Staatsbürger und einen Fall von konspirativem Vorgehen zum Zweck von Folter. Großbritannien hatte erst kürzlich die Internationale Anti-Folter Konvention unterzeichnet und sämtliche Vorwürfe bezogen sich auf Taten, die während der letzten vierzehn Monate seiner Herrschaft verübt

       worden waren.

       Die chilenische Regierung protestierte sofort gegen die Verhaftung, die Auslieferung und gegen einen Prozess. Es entstand ein hartnäckiger Rechtsstreit vor der Kammer der Lordrichter, dem obersten britischen Gerichtsorgan, der sechzehn Monate andauerte. Pinochet berief sich auf seine diplomatische Immunität als ehemaliger Staatschef, aber diese wurde ihm von den Lords angesichts der Schwere der erhobenen Anklagen abgesprochen und dem Auslieferungsersuchen wurde stattgegeben, allerdings mit diversen Auflagen und Einschränkungen. Kurz darauf ermöglichte jedoch ein zweiter Urteilsspruch derselben Kammer der Lordrichter Pinochet der Auslieferung auf Grund seines prekären Gesundheitszustandes zu entgehen (er war zum Zeitpunkt seiner Festnahme zweiundsechzig Jahre alt), und zwar aus “humanitären” Gründen. Nach einigen medizinischen Untersuchungen gewährte der damalige britische Außenminister Jack Straw Pinochet nach beinahe zwei Jahren Hausarrest oder Klinikaufenthalt im März 2000 die Rückkehr in sein Land.

      

      

       Auf dem Höhepunkt dieses verwickelten internationalen juristischen Tauziehens reiste ich Ende März 1999 nach Santiago de Chile, um für die Tageszeitung Il Tempo über die aktuelle Ent-wicklung zu berichten und um die älteste Tochter des Senador vitalicio , Lucia zu treffen. Der High Court in London hatte Pinochet soeben die Immunität verweigert und das Flugzeug, dass – getragen von der Hoffnung der Familie und den Anhängern des Generals – geschickt wurde, um ihn nach Chile zurückzubringen, kam ohne ihn zurück.

       Die Reaktion auf den Straßen von Santiago ließ nicht lange auf sich warten. In der chilenischen Hauptstadt war am vierundzwanzigsten März das Urteil mit angehaltenem Atem erwartet, worden, auch wenn man keine Panzersperren aufgebaut hatte. Während eine diskrete Präsenz von “Carabineros” die neuralgischen Punkte der chilenischen Hauptstadt kontrollierte – den Präsidentenpalast der Moneda, die Botschaften von Großbritannien und von Spanien und die Amtssitze der Organisationen pro und contra des Senador vitalicio – verfolgten die Chilenen die Ereignisse im Minutentakt dank der ausführlichen Medienberichterstattung durch die nationalen Netzwerke. Die Aufmerksamkeit galt einem historischen Ereignis, per Satellit direkt mit London, Madrid und diversen Standorten in Santiago verbunden, das gegen sieben Uhr morgens begonnen hatte und den ganzen Tag über andauerte. Weniger als eine Stunde nach Entscheidung des Lordgerichts, gegen zwölf Uhr Ortszeit brachten zwei Nachmittagszeitungen bereits eine Sonderausgabe. Ein Blatt betitelte die Reportage auf der Titelseite mit folgender Schlagzeile: «Pinochet hat verloren und gewonnen».

       In den entscheidenden Momenten jenes Vormittags versammelten sich viele Bürger von Santiago um die öffentlichen

       Fernseher, die man überall in den Lokalen installiert hatte, in allen Filialen von McDonald's bis zu den kleinen Gasthäusern. In einem großen Warenhaus des Zentrums war es beinahe zu einer Revolte von erbosten Kunden gekommen, die den Direktor verbal attackierten und forderten, den Fernsehsender auf die Direktleitung nach London einzustellen.

       Am Nachmittag kam es zu ersten Spannungen, nachdem zuvor alles ruhig geblieben war. Um sechzehn Uhr Ortszeit Santiago kam es im Zentrum der Hauptstadt, an der Kreuzung zwischen 'Alameda [2] und calle Miraflores zu ersten Zusammenstößen zwischen Studenten und der Polizei. Die Bilanz: etwa zehn Verletzte und an die fünfzig festgenommene Studenten.

       Es gab viele Appelle und überall wurde zur Ruhe aufgerufen, insbesondere von Seiten der Regierungsvertreter. Es gab auch Drohreden, wie die von General Fernando Rojas Vender, (der Pilot der den Präsidentenpalast der Moneda bombardierte), Kommandant der chilenischen Luftwaffe, der fahnentreuen FACH, die am Dienstag zuvor noch öffentlich behauptet hatte, dass sich im Land ein Klima bilde, «ähnlich wie beim Staatsstreich von '73»; sie waren von der Regierung massiv kritisiert und zensiert worden und man hatte

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