Gesammelte Werke. Robert Musil

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Gesammelte Werke - Robert Musil страница 191

Автор:
Серия:
Издательство:
Gesammelte Werke - Robert Musil

Скачать книгу

unberechenbaren Folgen führen konnte, denn wir waren nicht eben beliebt in dem Städtchen; und plötzlich gaben wir Fersengeld. Erst würdevoll langsam; aber kaum waren wir von einem Haus gedeckt, so setzten wir uns in Trab; und als wir weiter weg wieder in Sicht kamen, fielen wir in Galopp, recht übermütig jetzt, mit Quersprüngen, die wie Unschuld aussehen sollten, aber doch sehr danach angelegt waren, möglichst rasch Raum zwischen uns und die Untat zu legen. Aber es wurde kein Laut dahinten hörbar; und als Ali, der vorerst mißmutig hinter uns getrottet war, uns derart laufen und springen sah, schüttelte auch er seine Verstimmung ab, sprang an uns vorbei, jeden einzelnen mit der Schnauze berührend, und staubte jauchzend als unser Führer der Stadt zu.

      Jenseits lagen die übermannshohen Kukuruzfelder. Wenn man hindurchstreift und etwas am Gewissen hat, wispern sie ganz erstaunlich. Und dann kam der See; der Weg, die Bergflanke hinauf. Durch den Wald von Edelkastanien. Und Ahorn. Der See sinkt immer tiefer. Aber keiner von uns war je über das Wirtshaus am Weg hinausgekommen, wo es Brotwecken gab und Wein. Die Hitze des Tags verglühte auf unsern Gesichtern, und die Hitze des Weins ging langsam in ihnen auf wie der Mond in Wolken. Unter den Bäumen dunkelte es; ein Windlicht wurde auf den Steintisch gestellt. Man sagte, der Weg führe später in wilde Steinhänge, dann über das Gebirge in das große Tal hinüber. Agnese sagte es, die Wirtstochter, deren Geliebten wir nicht kannten, aber als einen stattlichen Mann ahnten, der für uns nichts übrig ließ. Und mit Mond und Wein und der zerschmelzenden Spannung des Tages kam blank das Gedenken an Alis Mord heraus, das wir bis dahin voreinander versteckt hatten.

      «Es war nicht ‹fair› von ihm, bei solchem Unterschied der Größe!» – versuchte der Eisenbahnassistent, der auf Sport hielt, unseren Schreck zu beschönigen. «Ein ungleicher Kampf stößt ab!» – Aber er fand mit seiner Erklärung keinen Beifall. Ein anderer sagte: «Wenn es wenigstens eine Katze gewesen wäre!» und keiner vermochte das unvergeßlich Abstoßende dieses Vorfalls aus uns herauszubringen. Ein Schweigen trat ein. Endlich sprach einer langsam: «Aber, es hat uns ja gar nicht abgestoßen. Wir sind hereingefallen.» Das war es. Wir waren auf unser Herz getreten und ausgerutscht, als der Schrei des Unsagbaren in der Luft klang, und jetzt wollten wir es mit einem Fußtritt wegschleudern, als wären wir versehentlich auf einer Orangenschale ausgerutscht.

      «Wenn er ein Mensch wäre, würde es sich doch nur um einen Totschlag im Affekt handeln!» – lenkte der Seidenspinner ab. «Drei Jahre Kerker; weiter nichts!» Der Lehrer nahm die Ablenkung auf. «Man kann ein Tier nicht wie einen Menschen beurteilen.» – Er hatte plötzlich Bedenken, daß wir in dieser Stimmung etwas gegen Ali beschließen könnten.

      Pause, und dann fragte mit einemmal einer grob: «Weißt du das so genau?!» – Da waren wir nun wieder dort, wo wir sein sollten.

      «Nichts weiß er!» schrie der Seidenspinner, der den Lehrer plötzlich im Stich ließ. «Man könnte selbst einen anderen ins Genick beißen und ihn zwischen den Zähnen totschütteln!» – Er gab weiter keine Aufklärung, sondern schwieg. Alle sahen ihn erstaunt an. Der reiche Seidenspinner entstammte als einziger von uns einer Familie dieser Kleinstadt und sah aus, als ob er einem Huhn den Hals durchbeißen könnte. Wir vermochten ihm leider nicht zu widersprechen, aber der Unterschied zwischen unserer Zustimmung und deutlichem Ekel war sehr gering.

      «Warum habt ihr dann bloß alle von mir verlangt, daß ich ihn schlage?!» fragte jetzt kläglich der Lehrer.

      Ja, warum? Einer schob seinen Stuhl zurück und sagte aufstehend: «Wie lange werden wir noch in diesem verdammten Winkel von Stadt aushalten müssen!?»

      Ich nahm das Windlicht und leuchtete unter den Tisch, wo Ali schlief. Wir sahen ihn an. Er erwachte und streckte seine gutmütigen Pfoten, treuherzig hingen die großen Hautlappen des Mauls über seine Zähne. «Ali!» lockten wir. Agnese stand, die Arme gekreuzt, auf der Hausschwelle und sah uns zu. So stand sie immer und sah uns zu, wenn die Worte bald stockten, bald zu den Sternen emporstiegen wie Schaum über einem Wasserfall. Wir wußten nicht einmal, ob sie unsere Sprache verstand, sie nahm nie teil, sie sah uns zu, wie man Tieren oder einer stummen Bewegung zusieht, sie schien uns zu verachten. Ich stellte das Licht wieder zurück und warf Geld auf den Tisch – das brachte Leben in sie. Ali hatte sich zu Ende gestreckt und trabte vor uns den Weg in die Stadt zurück. Er schien mit seinem Tag zufrieden zu sein, und ich glaube, wir andern beneideten ihn heimlich.

      Tagebuchblatt

[8. August 1927]

      Man braucht nicht sehr lange gelebt zu haben, so erinnert man sich schon an Erlebnisse, die es nicht mehr gibt.

      In meiner Kindheit wiederholte sich oft ein fremdartiger Vorgang: Eine Frau hält einen Fisch fest, der sich in ihrer Hand windet, während sie ihm mit der anderen Hand den Bauch aufschlitzt. In meiner Erinnerung sind das immer große Frauen, in deren Gesicht und ruhigem Busen sich Gutmütigkeit und Duldsamkeit ausdrücken, und sie tragen eine weiße Schürze. Das gibt es heute nicht mehr. Sollte heute überhaupt noch das gleiche in der Küche vorgehen, so würden die Frauen mager sein, mit kurzem Haar, kurzen Röcken und knabenhaften Bewegungen; mit einem Wort, es würde gar nicht mehr das gleiche geschehen. Ihr Gesicht könnte höchstens den Ausdruck eines Knaben haben, der ein Tier quält. Ich glaube nicht, daß ein solches Bild so töricht und unverständlich das Herz zusammenzupressen vermöchte, wie es noch vor zwanzig Jahren geschah.

      Ich weiß, daß diese alte Erinnerung heute als ein bezeichnender Ausdruck der kindlichen Sexualität erklärt werden würde, in dem sich das Begehren nach der mütterlichen Frau mit einer Ahnung schlüpfrigen Abscheus und den vernichtenden Gefühlen des Tabus, der Autorität und der eigenen Kleinheit vereint. Aber wenn Schopenhauer die Psychoanalyse schon gekannt hätte, so würde er ihr entgegengehalten haben, daß dieses grausame, aus Insuffizienz und Begehren gemischte knabenhafte Lustgefühl nicht einen frühen, bis auf Spuren wieder verschwindenden Masochismus bedeutet, sondern eine Ahnung von der wahren Gestalt der Liebe. «Überwinde das Geheimnis» – würde er gesagt haben – «und schließe das Buch der Liebe, so wirst du bemerken, daß nichts darin stand, als immer wieder dieses eine Bild. Das Bild, wo du, freiwillig Unfreiwilliger, dich in der Hand eines ahnungslosen Frauenzimmers windest, das dich festhält und dir ein Stück jener großen, schrecklichen, glücklichen Einbildung ausweidet, von der schon alle ihre Vorgängerinnen gezehrt haben.» – Er war ein Liebeshasser, dieser große Schriftsteller, und drückte sich bloß deshalb als Frauenhasser aus, weil er ein Mann war.

      Aber wie – wenn das die Natur der Liebe ist – kündigt sie sich der Frau an? Ich habe M. gefragt. Gegen Schopenhauer fand sie nichts einzuwenden. Nichts als die Rollen sind da vertauscht; denn eine Frau, wenn sie in die Jahre der Wehmut und Weisheit kommt, kennt auch das Gefühl, daß sie sich vergeblich in den Armen von Menschen gewunden hat. Aber gegen die Psychoanalyse erwies sich M. sehr voreingenommen. Sie behauptete, die Psychoanalyse sei eine von Männern ausgeschmückte Erfindung. Wenige Frauen haben an ihr tätig mitgearbeitet; die meisten nur in der willenlosen Rolle der Kranken. Sie kann dieses Arsenal von Scheren und geträumten Männern mit zornigen roten Köpfen nicht leiden. Es wäre übrigens nicht unnatürlich, wenn sich diese weiblichen Phantasien als Phantasien der Männer über die weibliche Phantasie herausstellen würden, zumindest sind sie durch das Überwiegen männlicher Vorstellungsarbeit gesiebt, gefiltert und gefärbt.

      Wir sind auf dieses Gespräch gekommen, indem wir den Donaukanal entlang gingen, es war in Wien; in der Weihnachtswoche. Schön der festlich ungewisse, helle Nebel über dem Wasserspiegel. Schwarzbraune, hochbordige Schiffe, deren Deck bis an den Kai reichte. Große Butten am Ufer. Frauengewimmel. Männer, in Wollwesten, mit fröhlich roten Händen aus den Bottichen fischend. Arme, große Fische, nach Luft schnappend; in Händen gewogen; in Küchennetze gesteckt. Man konnte fühlen, wie innig ihre grausilbrigen Leiber, der bogenförmige Widerstand ihrer Muskeln in den prüfenden Händen, ihre Qual zur heiligen Freude des Tages gehörten. M. fand nichts Bemerkenswertes daran, daß Frauen Fische töten; irgendeiner muß nun einmal diese armen Tiere für die Bratpfanne herrichten; vorausgesetzt natürlich, daß man es erlaubt findet, sie zu essen. Sie hatte freundlich gespannte Augen, und

Скачать книгу