Gesammelte Werke. Robert Musil

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Gesammelte Werke - Robert Musil

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erinnere mich, daß ich das zu ihr bemerkt habe. Eine viel einfachere und gewöhnlichere Schicht menschlicher Interessen lag hier bloß, als es die war, von der wir gesprochen hatten; gewissermaßen soziales Urgestein aus Backen, Essen und sich Freuen bestehend, zu dem auch das unverkünstelte sich Umarmen gehört. Darüber erst und darüber hin wandern, wechselnd, sich zusammenziehend und zerstreuend, die Komplikationen, die Bedeutungen, die Hemmungen und Beschleunigungen, Pressungen, Schwierigkeiten, Seligkeiten, Einbildungen und tödlichen Konflikte. Aus einer ungemein einfachen Landschaft steigt Dunst auf, bildet Wolkenburgen von wechselnder Form, die sich langsam verändern, aber eine Weile lang der ganzen Landschaft den Charakter des Bildes geben, das sie bekrönen. Ich weiß nicht, ob das sehr deutlich ist; aber mir fielen gerade diese Worte ein, und ich glaubte, während ich sie aussprach, die Wolkenburgen der Jahrhunderte zu sehen, die sich aus der im Grunde immer gleichbleibenden menschlichen Flachheit erheben.

      M. antwortete nicht darauf. Aber nach einer Weile sagte sie außer dem Zusammenhang: «Ich wüßte nur ein einziges Erlebnis, das sich mit deinen Fischköchinnen vergleichen ließe, und das ist ganz anders. Ich war ein kleines Mädchen, als der Vater meines Vaters starb und Papa verreiste. Ich hatte wohl gar nicht begriffen, weshalb er mit einem Male fort war, denn als er zurückkehrte, erzählte er mir erst ausführlich, was vorgefallen war. Ich wußte nicht viel von meinem Großvater, und das Gespräch im Familienzimmer in Mutters Gegenwart machte mir wenig Eindruck. Aber als mein Vater beschreiben wollte, wie Großvater aussah, als er ihn auf dem Totenbett wiederfand, in diesem Augenblick warf Vater die Hände auf den Speisezimmertisch und das Gesicht in die Arme und brach in tiefes Schluchzen aus. Ich hatte noch nie einen Mann weinen gesehen und dachte, daß ich versinke. Dieses zuckende Gesicht meines lieben weinenden Vaters, mit dem plötzlich komisch gewordenen großen Bart, schnitt mir das Herz in zwei Teile!»

      «Auch das läßt sich übrigens nicht mehr wiedererleben» – sagten wir mit einem Male beide – «denn die Väter tragen keine Bärte mehr!» – Wir lachten oder lächelten darüber, ich weiß es nicht mehr. Aber ich erinnere mich genau, wie es sich anfühlte. Vom Gebirge kam nämlich ein Schneewind herüber und wurde über dem Wasser aufgetaut, und aus den Gesichtern kam die Wärme und gefror in dem silberkühlen Nebel; die Welt wurde dadurch so unentschieden; man fühlte, wie im Sprechen das Gesicht in der Luft schmolz oder erstarrte, ohne daß man das recht auseinanderhalten konnte, und dabei gewannen die Worte mehr Bedeutung, als ihnen dem Inhalt nach wahrscheinlich zukommt.

      Robert Musil an ein unbekanntes Fräulein

[25. Dezember 1930]

      Unbekanntes kleines Fräulein!

      Weil ich Sie nicht kenne, schreibe ich Ihnen durch die Zeitung. Ja, indem ich mir die Umstände unserer Begegnung überlege, wird mir klar, daß ich an jemand schreibe, den es gar nicht mehr gibt oder doch nur in höchst schattenhafter Weise. Jene Begegnung vollzog sich aber unter sehr alltäglichen Umständen. Sie stiegen in einen Wagen der Straßenbahn ein, worin ich saß. Ich vermute, daß Sie mich unter den wenigen Fahrgästen bemerkt haben werden, denn Sie trugen ein ungemein gehaltenes Wesen zur Schau, ganz kleine Dame, die es fühlt, daß man sie betrachtet. In Ihrer Gesellschaft befand sich ein Herr meines eigenen Alters, der mir auch gefiel; er konnte ein viel älterer Bruder sein, aber wenn er Ihr Vater gewesen sein sollte, so erwies er sich Ihnen in einer jugendlichen Weise gleichgestellt und gar nicht herrisch, und ich möchte vermuten, daß Sie seinen Gedanken in einer ähnlichen Weise schmeichelten wie den meinen. Ich schätze, daß Sie damals höchstens vierzehn Jahre alt waren. Sie trugen ein straßenfarbenes Samtkleid, das in der Mitte eng anlag, so daß der etwas schwere und doch bildsame Stoff darüber und darunter die Reife der weiblichen Erscheinung vortäuschte, ohne daß doch der Figur das Kindhafte genommen worden wäre. Mir war sogleich der Name «Kind-Frau» eingefallen, als ich Sie ansah. Ihr Samtkleid hatte an den engen Ärmeln Stulpen aus Pelz und war auch unten mit Pelz verbrämt, wo es einen weiten Radsaum bildete; und es gemahnte ein wenig an ein Nationalkostüm oder an ein Eislaufkostüm, aber es war wahrscheinlich überhaupt kein Kleid, sondern ein Mantel: Sie selbst werden das gewiß heute noch wissen und sich gern daran erinnern, ich aber kann zu meiner Entschuldigung nur anführen, daß Bewunderung eben immer viel genauer beobachtet als Selbstbewunderung, die sachlich vor dem Spiegel auf die Einzelheiten eingeht und sie prüft.

      Vielleicht ist diese Ausrede falsch, aber jedenfalls gibt sie zu, daß meine Bewunderung unsachlich und in einem nicht ganz einwandfreien Sinne romantisch war, was auch ganz natürlich ist, denn die Möglichkeit, mich in Sie zu verlieben, lag ja gerade darin, daß ich nicht im vollen Bewußtsein der Wirklichkeit handelte, die mir das nicht erlaubt hätte. Lassen Sie uns das gute, alte Wort Traum dafür gebrauchen: dort begegnet man einem Menschen, erkennt, wer er ist, und weiß, daß er ein anderer ist; in ähnlicher Weise, tief im Bergwerk, über dem wir uns sonst bewegen, blieben Sie für mich ein Kind und waren doch eine in den Maßen verkleinerte Frau – zehn Minuten lang, ehe Sie ausstiegen und mir verlorengingen, ohne daß ich mich dagegen wehrte. Die Art, wie Sie eintraten, sich setzten und dem Schaffner ein wenig nachlässig das Geld reichten (denn Sie taten das, und nicht Ihr Begleiter), war ohne jede Spur jener Affektation, mit der ein Kind so etwas tut; und die Züge Ihres Gesichts, das ich mit seinem dunklen Rot, den starken Brauen, den vollen Lippen und der ein wenig aufgebogenen Nase noch vor mir sehe, waren zwar Ihren Jahren voraus, aber trotzdem bildeten sie nicht etwa nur das verkleinerte Gesicht einer erwachsenen Frau. Es fällt mir dabei ein, daß man Ihre Erscheinung auch ganz und gar nicht mit einer «Knospe» vergleichen durfte, denn die Form einer solchen ist zwar jugendlich, aber hart und entschieden, und der Liebreiz Ihrer verfrüht aufgeblühten Kindhaftigkeit glich eher einer Blume ohne Wurzel, ja, ohne Stiel.

      Mehr habe ich Ihnen eigentlich nicht zu sagen. Und ich habe weder eine Moral noch eine Unmoral daraus abzuleiten: offenbar lag unsere Begegnung zwischen diesen beiden Möglichkeiten, und es sind ja auch schon über zehn Jahre seither ohne Folgen vergangen. Zuweilen erinnern Sie mich daran, daß es allerhand Geschichten von Frauen gibt, die eine geheimnisvolle Herkunft aus Baumästen, Quellen oder Retorten hatten, Frauen, die nicht ganz Frau waren und mit diesem Nicht-Ganz die Männer bis zum Märchenerfinden reizten. Es ist das offenbar eine Phantasie, die der Mannsperson aus vielerlei Gründen ans Herz geht. Und anderseits frage ich mich, was wohl Sie noch von dem kleinen Mädchen wissen mögen, das es nicht erwarten wollte, Sie zu werden, und sicher jetzt ein wenig davon enttäuscht ist.

      Ausgebrochener Augenblick

[30. August 1931]

      Ereignet hat es sich am letzten Verhandlungstag gegen drei Uhr mittags kurz vor der Pause, die nach Abschluß des Zeugenverhörs gemacht werden sollte, um Richter, Kläger und Geklagtem Gelegenheit zu geben, daß sie essen könnten, ehe die Gerechtigkeit den Mund zum Spruch öffne. Der Junitag zog seit dem Morgen vorbei, hochbeladen mit Hitze wie ein Heuwagen, der langsam näher kommt, nun glaubte man ihn knarren zu hören, aber es fiel nur der Schatten seiner Wärme in den kleinen Gerichtssaal, dessen Fenster dunkel auf die grell ihnen gegenüberliegende Häuserreihe blickten. Die Menschen, die in dem Saal zu tun hatten, würden eine offene Hitze dieser heimtückischen vorgezogen haben, und es gab keinen, der nicht zeitweise an Land und Urlaub gedacht hätte.

      Einige Dutzend Landschaften waren in den Köpfen verborgen. Ein Flußufer mit einer kleinen Badehütte; ein Schluck Milch, dessen echter Geschmack einstens sogar einen verdächtigen Eindruck gemacht hatte, nun aber wie die Ruhe des Paradieses durch die Kehle strömte; ein Gebirgsbahnhof, vor dem in der Morgenkühle die Hoteldiener mit Nagelschuhen und golden betreßten Mützen stehn: dumme oder sinnlose Einzelheiten, von denen sich nicht sagen läßt, woher sie kommen, aber sie kommen immer, wenn man von sogenannten höheren Anstrengungen genug hat, und der zu Ende gehende Rechtsstreit war eine solche. Der nicht sehr sympathische Ankläger, der um Ehre und Stellung kämpft – man wirft ihm schmutzige Geschichten vor, und er hat sie wohl auch begangen, aber er fühlt sich trotzdem als das Opfer seiner Entlarver –, hat sich schon seit Wochen in der Rolle des unschuldig Verfolgten eingerichtet, und der Gedanke, daß er entweder sich oder seinen Gegner töten werde, wenn der Prozeß übel

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