Der Moloch. Jakob Wassermann
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Arnold, der für solche Schmerzen keinerlei Verständnis besaß, hatte zerstreut zugehört. Jenes unbedeutende Frauenzimmer erschien ihm keines Wortes wert. Er schämte sich für Specht.
Über eine Viertelstunde saßen sie schweigend beisammen. Der Wirt hatte die Lampe angezündet. Endlich fragte Arnold, indem er den Kopf ein wenig vorstreckte und das Kinn mit zwei Fingern der linken Hand drückte: »Wann wird man denn befehlen, das Mädchen frei zu lassen?«
»Welches Mädchen?« entgegnete Specht aufschreckend. »Die Elasser meinen Sie? Ich weiß nicht.« Specht fühlte sich beleidigt, daß Arnold einer so fernen Angelegenheit mehr entgegenbrachte als seiner, Maxim Spechts, persönlich nahen. »Wer, glauben Sie denn, daß hier befehlen wird?« fragte er ironisch.
»Das Gericht, denk ich,« entgegnete Arnold und wandte sich dem Lehrer völlig zu.
»Sie ahnen offenbar nicht, um welche Mächte es sich hier handelt?« Specht lächelte boshaft vor sich hin, als ob er mit diesen Mächten im Bunde sei.
Mit lachendem Mund und höchst erstauntem Ausdruck sagte Arnold: »Es handelt sich um ein Unrecht.«
Specht meckerte. »Unrecht hin oder her. Leben wir denn im Paradies? Findet denn jedes Unrecht einen Richter? Und wenn es schon einen Richter findet, findet es dann auch Gerechtigkeit?«
»Das ist mir zu dumm, was Sie da schwätzen, Sie wollen mich wohl zum Narren halten,« erwiderte Arnold, erhob sich mit blitzenden Augen und schob den Tisch mit dem Oberschenkel von der Bank weg. Der Hund fuhr aus dem Schlaf empor und bellte wütend. Bestürzt blickte der Lehrer Arnold an, der schweigend sein Geld auf den Tisch legte und die Wirtsstube verließ.
Specht seufzte. Er schloß grübelnd die Augen. Bald machte auch er sich auf den Weg, schlenderte die finstere Dorfstraße entlang und kam bis zum Hankaschen Zaun. Er lehnte sich an das Gartentor und begann melancholisch zu pfeifen, scheinbar ohne Absicht und nur in sich selbst versinkend. Seltsame Menschen gibt es, dachte er, indem er weiterpfiff, mit Beziehung auf Arnold. Was ficht ihn an? Für ihn ist das Leben ein warmer Pfannkuchen; er braucht sich nur hinsetzen, um zu essen. Will er Rechenschaft haben über die Unbescholtenheit der Henne, von der die Eier kommen?
Im Haus wurde ein Fenster geöffnet und eine helle Stimme rief: »Specht! Herr Specht! Kommen Sie doch herein! Was stehen Sie denn und pfeifen!«
Specht folgte der Einladung. Beate und Agnes saßen bei Tisch und schienen soeben mit dem Abendessen fertig geworden zu sein. Beate blickte Specht hochmütig und höhnisch an. Specht verbeugte sich, lächelte flüchtig, nahm Platz und fragte höflich nach Agnes Hankas Befinden. Freundlich und eilfertig bot ihm Agnes von den Überresten der Mahlzeit und obwohl er hungrig war, schüttelte Specht den Kopf und deutete scherzhaft auf seine Magengegend. Beate hatte nicht aufgehört den Lehrer fest anzublicken. Sie spielte mit einem Zeitungsblatt und sagte plötzlich vor sich hin, ohne Furcht, daß sie von der halbtauben Agnes gehört werden könne: »Wenn du nicht vernünftig bist –« ... mit einer kategorischen und deutungsvollen Bewegung riß sie das Blatt mitten entzwei.
»Erlauben Sie, ich nehme mir doch ein Stückchen Käse,« rief Specht, zu Agnes gewandt, die ihm erfreut Butter, Brot, die Weinflasche und den Wurstteller hinschob. Sie klagte dem Lehrer, daß sie Sorge um ihren Bruder Alexander habe; sie fürchte für seine Gesundheit, er sehe so schlecht aus. Übrigens habe er heute in einem Brief versprochen, gegen Weihnachten längere Zeit in Podolin zuzubringen.
Specht fragte, was Alexander Hanka eigentlich treibe.
Agnes besann sich, ob es nicht doch vielleicht etwas gab, das Hanka »trieb«. »Nichts,« erwiderte sie endlich scheu.
Der Lehrer lächelte sarkastisch.
»Er lebt von seinem Geld,« sagte Beate stirnrunzelnd. »Er ist reich genug. Ist das vielleicht nicht erlaubt?«
»Es ist leider nicht nur erlaubt, es wird gern gesehen,« antwortete Specht.
Agnes gab dem Lehrer ihres Bruders Brief zu lesen. Es war, als suche sie über etwas Beunruhigendes in Hankas Leben Aufschluß und Trost, naiv dem Fremdesten vertrauend. Specht betrachtete zerstreut die ungefügen Schriftzeichen; unter dem Tisch suchte er Beates Hand zu ergreifen.
Zehntes Kapitel
Frau Ansorge erhielt aus Wien die Nachricht, daß ihr Bruder Borromeo sich wieder verheiratet habe. Die Photographie der neuen Schwägerin zeigte eine üppige Gestalt mit regelmäßigen Zügen, die einen herrischen und kalten Ausdruck hatten. »Friedrich tut nichts Gutes in seinem Schwabenalter,« sagte Frau Ansorge zu Arnold, der das Bild der schönen Frau mit Vergnügen betrachtete.
An demselben Morgen schickte Maxim Specht einen Brief und eine Zeitung. Die Zeitung enthielt Spechts Bericht über den Raub der Jutta Elasser. Arnold las, und es wirkte erstaunlich auf ihn, nicht gerade wie eine Lüge, sondern wie Schiefheit, wie Backenaufblasen. Aus dem Nahen und Wahren war etwas Fernes, Gespreiztes und Lärmendes geworden.
Der Brief lautete: »Wenn es Ihnen paßt, holen Sie mich morgen früh um sieben Uhr ab. Der Polizeihauptmann hat mit der Elasserschen Angelegenheit einen Kommissar beauftragt, der ein guter Bekannter von mir ist. Er erlaubt mir und Ihnen dabei zu sein, wenn Elasser im Kloster seine Tochter zu sehen bekommt. Davon darf man die Entscheidung erwarten, denn es ist nicht einzusehen, wie sie ihm dann noch das Kind verweigern wollen, was doch zweifellos geschehen wird. Der Zweck ist, die Sache hinzuziehen, bis Jutta das religionsmündige Alter von vierzehn Jahren erreicht haben wird. Dann wird dem Samuel Elasser die väterliche Gewalt durch die Vormundschaftsbehörde abgesprochen und der Taufe steht kein Hindernis im Wege; denn über das, was das Mädchen selbst will oder nicht will, wird ja die Öffentlichkeit getäuscht. Also nicht ich bin dumm oder boshaft, lieber Freund, sondern die Ereignisse sind es. Und dumm bin ich vielleicht nur deshalb, weil ich mich darum kümmere und die Welt, gemein wie sie ist, ändern möchte. Das ist nicht nur Dummheit, sondern Irrsinn. Bleiben Sie gut Ihrem Specht.«
Arnold hatte das Gefühl eines Hinterhaltes. Er las den Brief nicht nur, sondern er studierte ihn, drehte ihn um und um und zerstampfte ihn schließlich mit den Stiefeln. Den ganzen Tag über vermochte er nichts Rechtes anzufangen.
In der Nacht hatte er einen seltsamen Traum. Er kam von einer langen Landstraße an eine hohe Gartenmauer. Vor der Mauer standen zwei Pferde einander gegenüber, ein kleines und ein großes Pferd. Beide Tiere sahen aus, als ob sie mit Grünspan überzogen wären. An Hals, Kopf, Rücken und Bauch trugen sie allerlei Zieraten, die, ebenfalls grünspanfarben, aus der Haut hervorragten, als ob es nur künstliche Tiere wären. Aber beide Pferde lebten. Nun stand an der Mauer eine Tafel, welche die Inschrift trug: diese Pferde können sprechen. Nachdem er eine Weile unschlüssig und doch höchst begierig gestanden war, warf er ein Geldstück hin. Darauf ertönte ein langsames Glöckchen über der Mauer; das größere Pferd erhob den Kopf und öffnete weit das Maul, um zu sprechen. In diesem Augenblick wurde Arnold von einem so furchtbaren Schrecken ergriffen, daß er in der größten Eile über die Landstraße Reißaus nahm. Als er aufwachte und den Traum überlegte, kam er ihm überaus albern vor; dennoch, die dünne Luft, die Mauer, die einsame Straße, die schwermütige Miene des grünen Gauls, der sich anschickte zu sprechen, das alles trug etwas Unvergeßliches in