Sophienlust Staffel 8 – Familienroman. Diverse Autoren
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Denise nahm das Aufsatzheft und begann zu lesen. Es handelte sich um eine Tiergeschichte. Da war Pünktchen natürlich in ihrem Element gewesen. Denn Tiere spielten im Leben der Sophienluster Kinder eine wichtige Rolle – nicht nur die Tiere, die zum Gutsbetrieb gehörten, oder die Ponys, auf denen sie reiten durften, sondern auch Kleintiere aller Art, die persönliches Eigentum der Kinder waren. Habakuk, der sprechende Papagei, der im Wintergarten residierte, war im Laufe der Jahre zu einer gewichtigen Persönlichkeit des Heims geworden. Die genaue Zahl von Hunden, Katzen, Meerschweinchen, Wellensittichen, Kanarienvögeln, Goldhamstern und Kaninchen, die zum Heiminventar gehörten, war Denise nicht immer bekannt.
So war Pünktchens Aufsatz über einen hartherzigen Bauern, der einen Wurf junger Katzen hatte ertränken wollen, ein kleines Meisterwerk geworden. Die vier Kätzchen wurden in Pünktchens Erzählung glücklicherweise in letzter Minute auf dramatische Weise gerettet. Der Junge, der die Tierchen aus dem Wasser fischte, wurde als Held geschildert und hatte deutliche Ähnlichkeit mit Pünktchens geliebtem großen Freund Nick. Denn Pünktchen war einst als unglückliches kleines Kind von Nick aufgefunden worden und hing seitdem mit echter, verehrungsvoller und manchmal sogar ein wenig eifersüchtiger Liebe an ihm.
Die kleinen Katzen in Pünktchens Klassenaufsatz führten den Leser in vier gänzlich verschiedene Familien, wo sie – wie hätte es anders sein können? – nur Segen stifteten. Vielleicht war die Erzählung ein wenig idealisiert, doch Denise freute sich, dass Pünktchen die positiven Seiten des Lebens aufzuzeigen versuchte. Sogar das Tierheim, das Andrea und Hans-Joachim von Lehn für kranke Tiere gegründet hatten, erschien in abgewandelter Form in Pünktchens Aufsatz.
»Fein hast du das gemacht, Pünktchen«, lobte Denise das Mädchen und gab ihr das Heft zurück. Dann ging sie weiter.
Im Park spielte Schwester Regine mit den Kleinsten. Das neue Kind hockte im Sand und backte Kuchen, sorgsam und mit noch ungeschickten Händchen. Der Luftballon war an der Rückenlehne einer Bank festgebunden.
»Tante Isi«, sagte das Kind leise, als Denise ihm über das weiche Haar strich, das frisch gewaschen war und in der Sonne glänzte wie Silber.
»Ja, mein Kleines? Wer bekommt denn die vielen guten Kuchen?«
»Die liebe Tante.«
War die ›liebe‹ und die ›böse‹ Tante ein und dieselbe Person? Denise seufzte. Es war schwer, ja, fast unmöglich, aus einem so kleinen Kind genaue Angaben über Herkunft und Namen herauszufragen. Um den kleinen Findling nicht zu verschüchtern, drang sie nicht weiter in das Kind und überließ alle Nachforschungen zunächst Nick.
Eben überlegte Denise, ob noch mehr in Sophienlust zu tun sei, als Isabel im Laufschritt in den Park kam. »Tante Isi, Telefon! Tante Ma schickt mich.« Damit meinte das Mädchen Frau Rennert, die von den Heiminsassen, ob groß oder klein, Tante Ma genannt wurde.
Denise eilte leichtfüßig auf das Herrenhaus zu. Dass sie früher einmal Tänzerin gewesen war, ließ sich nicht verleugnen. Ihr Gang wirkte leicht und schwebend, ihre Haltung aufrecht und stolz.
Im Büro reichte ihr Frau Rennert den Hörer. »Maria Berger«, sagte sie dabei.
Maria Berger war eine Verwandte von Frau Rennert. Als Waise war sie einstmals kurz in Sophienlust beheimatet gewesen. Jetzt war sie glückliche Ehefrau von Horst Berger, einem reichen Großindustriellen.
»Was gibt es?«, erkundigte sich Denise.
Maria brachte ihr Anliegen vor, nachdem sie sich zunächst vergewissert hatte, dass es in Sophienlust allen gut ging.
»Natürlich machen wir das, Maria«, antwortete Denise ohne Besinnen. »Wann möchte Frau von Rettwitz denn kommen? Je eher, desto besser. Du weißt ja, dass Sophienlust auch in Not geratenen Erwachsenen Heimstatt sein soll.«
Frau Rennert sah Denise fragend an, als diese schließlich den Hörer niederlegte. »Mir hat sie nichts erzählt, Frau von Schoenecker.«
»Es ist kein Geheimnis, Frau Rennert. Maria wollte es wohl nicht zweimal auseinandersetzen. Sie hat Freunde, eine Familie von Rettwitz, die von einem sehr traurigen Schicksal betroffen worden sind. Ihr einziges Töchterchen Renata ist im Alter von gut zwei Jahren an Hirnhautentzündung gestorben. Das war für die jungen Eltern ein schlimmer Schlag.«
»Schrecklich«, warf die warmherzige Heimleiterin ein. »Aber dann können wir für das Kind doch nichts mehr tun.«
»Nein, nein – es handelt sich um die Mutter, Isolde von Rettwitz. Sie leidet unter schweren Depressionen und kann den Verlust des Kindes nicht überwinden. Ihr Mann verspricht sich nun von einem Milieuwechsel Besserung und Heilung. Außerdem erwägt er, eventuell eines unserer Kinder zu adoptieren. Weitere Kinder kann das Paar nämlich aus Gründen, die mir nicht bekannt sind, nicht haben.«
»Natürlich nehmen wir die Dame gern auf«, erklärte Frau Rennert. »Das Zusammenleben mit unserer fröhlichen Schar wird sie ihre Depressionen sicher bald vergessen lassen.«
Denise nickte nachdenklich. »Hoffentlich, Frau Rennert. Falls es ihr für den Anfang hier in Sophienlust zu lebhaft zugehen sollte, werde ich sie nach Schoeneich einladen.«
Denise reichte der Heimleiterin zum Abschied die Hand und verließ das Herrenhaus von Sophienlust. Als sie schon im Wagen saß, sah sie Nick, der das fremde Kind an der Hand zu den Ponyställen führte. Der blaue Luftballon war wieder einmal mit von der Partie.
Ob ihr Sohn etwas herausfinden würde?
*
Achim von Rettwitz kam etwas abgespannt nach Hause, denn es lagen zwei anstrengende Gerichtsverhandlungen hinter ihm. Er hatte sich als tüchtiger Staatsanwalt bereits einen Namen gemacht. Studium, Beruf, dann seine glückliche Ehe mit Isolde – anfangs war alles im Leben des jungen Juristen nach Wunsch gegangen. Die ersten Sorgen waren gekommen, als Isolde bei der Geburt der kleinen Renata fast ihr Leben eingebüßt hatte. Doch das Schicksal hatte es noch einmal gnädig gemeint. Mutter und Kind waren am Ende gesund gewesen. Die Eröffnung des Professors, dass dem Paar weitere Kinder versagt sein würde, hatte damals kaum eine Bedeutung gehabt.
Renata war der Liebling und Abgott der Eltern geworden. Das Glück war vollkommen gewesen, bis diese tückische Krankheit das Kind hinweggerafft hatte.
Seither hockte Isolde apathisch und ohne Tränen neben dem leeren weißen Bettchen. Seither vernachlässigte sie den Haushalt und auch ihr eigenes Äußeres. Selbst an ihrem Mann schien sie keinerlei Interesse mehr zu haben. Achim gab sich alle erdenkliche Mühe, aber nichts fruchtete. Er schlug eine gemeinsame Reise vor, doch Isolde wollte sich nicht von dem verwaisten Kinderzimmer trennen. Er umgab seine Frau mit Liebe und Rücksichtnahme, aber es war, als bemerke sie gar nichts davon.
Auch an diesem Tag fand er die jetzt übliche Situation vor. Isolde hatte ihr schönes dunkles Haar gewaschen, sich aber nicht einmal die Mühe genommen, es aufzustecken. Wie ein ganz junges Mädchen trug sie es lang bis zur Taille. Achim liebte dieses herrliche Haar. Er beugte sich über seine Frau und legte die Lippen auf ihren Scheitel.
»Guten Abend, Isolde. Du siehst wunderschön aus, weißt du das?«
Sie schaute nicht einmal auf. Starr war ihr Blick auf das leere Bettchen geheftet. Müde hob sie die Schultern. »Was ist denn schön an mir?«
»Dein Haar, Isolde. Die heutigen Teenager würden dich um diese Pracht glühend beneiden.«
Isolde