Die Herrin und ihr Knecht. Georg Engel
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Noch hatte die Entschlossene nicht völlig geendet, als der Brief auf dem Schoß der Tante Adelheid seltsam zu rascheln begann. Und während der mächtige Landwirt vor Überraschung mit der Faust nur einen kräftigen Luftstoß ausführte, dem sich die empörte Anmerkung beigesellte: »Na, das ist aber doch – –,« da schüttelte seine Mutter sehr bestimmt das pergamentene Haupt, und ihre noch immer schwarzen Augenbrauen schnürten sich so eng zusammen, als ob damit die Willensäußerung ihrer Nichte ein für allemal ausgestrichen und aus der Welt geschafft wäre.
»Mein liebes Kind,« hüstelte sie in ihrer frostigen Art, die keinen Widerspruch zu kennen schien, »du siehst hier diesen Brief. Mein dummer Junge behielt doch recht, als er mich zu dem Besuch bei dir veranlaßte. Ich merke, wir kommen gerade zur rechten Zeit. Kurz und gut, liebe Johanna, du wirst klug handeln, wenn du deinen Besuch jenseits der Grenze unterläßt.«
»Aber warum, beste Tante? Ich sehe gar nicht ein –«
»Unterbrich mich nicht, Johanna, sonst verliere ich so leicht den Zusammenhang. Dir wird hoffentlich gleich alles klar werden. Und du kannst Gott danken, daß man dich noch in letzter Stunde warnt. Weißt du, was dieser Brief enthält? Er stammt von meinem Bruder, dem Geheimen Regierungsrat von Roeder aus dem Auswärtigen Amt, und mein Verwandter richtet die dringende Bitte an mich, die äußerste Vorsicht gegen alles walten zu lassen, was mit unseren russischen Nachbarn irgendwie in Beziehung steht.«
»Aber liebe Tante Adelheid,« rief Johanna eifrig, obwohl sie sich eines leichten Fröstelns, das über ihre weiße Haut rieselte, nicht erwehren konnte, »wozu das alles? Wir sind doch auf das große Volk dort drüben angewiesen. Wir tauschen so vieles von ihnen ein, was wir nirgends besser und billiger erhalten. Und die Leute von jenseits der Grenzpfähle nahmen gerade in den letzten Jahren auch von uns nicht allein allerlei praktische Dinge, sondern sogar manche Sitten und wissenschaftliche Errungenschaften an, so daß man sich über den lebhaften Verkehr doch nur freuen sollte.«
»Der Teufel soll den albernen und leichtsinnigen Verkehr holen,« brummte hier der Riese von Sorquitten dazwischen, dem der Zorn das Antlitz dunkler färbte, »ich wünschte, man hätte schon längst den Brüdern die Zähne gewiesen.«
»Um Gottes willen, Ihr stellt ja die Angelegenheit beinahe so dar, als ob wir uns mit denen da drüben im Kriegszustande befänden,« lachte Johanna ärgerlich auf, und ihre Rechte schlug dabei quer durch die Luft, wie wenn es notwendig wäre, das gefährliche, das unmögliche Wort von vornherein zu sprengen oder zu zerteilen.
Allein was war das? Weshalb suchten in diesem Moment die hellblauen Augen des Riesen, die sonst so lachend, so sorglos und unbekümmert über Lebendes und Totes fortzugleiten gewohnt waren, weshalb in aller Welt suchten sie so dringend und ernsthaft die ihren? Warum nickte das blonde Haupt ein paarmal so schwer und bedächtig, wie wenn ein ungeheures Schicksal sich mit Wucht auf diesen starren Nacken gebürdet hätte? Und dann? Täuschte sie sich? Ihr war es, als ob sich die unförmige Gestalt des Recken in plumper Bewegung näher und näher an die ihre heranschöbe, und das unsichere Gefühl durchdrang sie, als ob dies alles geschähe, um ihr bei heranziehender Gefahr nahe zu sein, um sie zu bergen und zu schützen. Dazu verharrte die Kranke in ihrem gelben Sessel starr und unbeweglich, kein Wort drang über die fest zusammengepreßten schmalen Lippen, und nur aus dem nervösen Zittern der schwarzen Augenbrauen enträtselte die beklommene Beobachterin, welchen beängstigenden Gedanken die Leidende heimlich preisgegeben sein müsse. Unerträgliche Schweigsamkeit waltete zwischen den drei aufgescheuchten Menschen. Endlich ertrug es die Älteste von Maritzken nicht länger. Mit ein paar unbedachten Schritten näherte sie sich dem Stuhl der Greisin, um ganz gegen ihre Gewohnheit hastig und aufgeregt die lange welke Hand von Fedors Mutter zwischen ihre eigenen pulsierenden Finger zu betten.
»Liebe Tante,« stieß sie ohne weitere Rücksicht hervor, »du mußt nicht glauben, daß es nur die Unruhe um meine eigene Sicherheit oder um die ungefährdete Existenz meiner Schwestern ist, die mich jetzt veranlaßt, dich um weitere rückhaltlose Auskunft zu bitten. Aber nicht wahr, Fedor, nicht wahr, Tante Adelheid,« fuhr sie dringender fort, »ihr, als Gutsvorstände, könnt mir das nachfühlen. Ich habe ja so vieles hier zu verantworten, anvertraute Kapitalien und nicht zuletzt das Leben und das karge Besitztum meiner Leute. Ich muß also wissen, worum es sich in diesem Briefe handelt. Ihr könnt es mir ganz ohne Schonung anvertrauen, es wird mich nicht umwerfen. Und dann –,« sie trat ans Fenster und riß mit einer hastigen Bewegung die seidenen Halbgardinen fort, so daß die alte Dame, von einem Sonnenstrahl getroffen, wehleidig zusammensank – »werft doch nur einen Blick auf alles, was wir Deutschen hier schufen, auf den alten Park mit seinen hundertjährigen Stämmen, auf die prachtvollen Weizenfelder, die wir in rastloser Emsigkeit durch immer neue wissenschaftliche oder rein praktische Methoden zu ihrer heutigen Reife und Blüte brachten! Betrachtet dort hinten, jenseits der Chaussee das reinliche Dörfchen Maritzken mit seinen kleinen Gärten und Lauben und der wunderhübschen Holzkirche. Das alles hat man seit fünfzig Jahren aus einem Sumpf herausgehoben. Und alle diese Mühe, so viel Leben und Daseinsfreude, das sollte man von einem eisernen Hagel zerschmettern lassen? Für immer? Nein, daran glaube ich nicht,« schloß sie tief atmend und legte sich wie befreit die flache Hand auf die arbeitende Brust.
Auf diesen Ausbruch hob die alte Dame den sorgsam behüteten Brief rasch gegen das Licht, zog aus ihrer schwarzseidenen Tasche gleichzeitig ein Schildpattlorgnon hervor und hielt sich die Gläser dicht vor die Augen.
»Liebes Kind,« schnitt sie alle weiteren Erörterungen ab, »wenn du mehr Umgang in militärischen Kreisen pflegen würdest, was ich für sehr nützlich hielte, so könntest du wissen, daß jene große Auseinandersetzung, die dir so unmöglich scheint, von den maßgebenden Stellen schon seit Jahren befürchtet oder auch erhofft wird. Je nachdem. Ich halte es deshalb für meine Pflicht, dir ganz reinen Wein einzugießen. Merke genau auf. Mein Bruder, der es auch mit dir gut meint, schreibt folgendes.«
Damit lenkte die starr und aufrecht Sitzende das gelbe Blatt Papier noch näher an ihr Antlitz, das sie scheinbar nicht beugen konnte, und griff mitten aus dem Brief folgende Stelle heraus:
»Seit dem frevelhaften Verbrechen, das dem Thronerben der uns verbündeten Monarchie das Leben kostete, haben wir hier im Amt eine aufreibende Arbeitsleistung zu bewältigen. Noch nie war der europäische Himmel so bewölkt wie jetzt. In den militärischen Zentralen wird fieberhaft geschafft, und ich kann dir unter der Hand mitteilen, daß die Sachkundigsten unter uns seit der Überreichung der österreichischen Forderungen an den rebellischen Balkanstaat die fernere Erhaltung eines ehrenhaften Friedens beinahe in das Gebiet der Unmöglichkeit verweisen. Sollte, was Gott verhüten möge, unser großer östlicher Nachbar sich für das Schwert entscheiden, – ein Gedanke, zu dessen Erfassung die Phantasie der meisten unserer in einem verweichlichenden Frieden völlig aufgegangenen Mitbürger durchaus nicht ausreicht – dann würde eine Weltkatastrophe heraufbeschworen, die alles, was jetzt festliegt und besteht, zerschmettern müßte.«
Ein widerspruchsvolles Lächeln, das sie sich selbst nicht zu deuten vermochte, glitt bei dem eben Gehörten über die bleichen Züge der Landtochter, denn sie gehörte zu denen, deren Einbildungskraft vor der ungeheuerlichen Prophezeiung machtlos niedersank. Die alte Dame jedoch verkündete mit scharfer Stimme weiter, und es war, als ob ihre Worte sich immer stechender und aufreizender formten, je Erbarmungsloseres über ihre schmalen Lippen floß.
»Ihr könnt euch die Last und die Qualen dieser Spannung gar nicht vorstellen. Von Tag zu Tag fliegen neue Vorschläge, Vermittlungen und geheime Depeschen von Allerhöchster Hand herüber und hinüber. Alles starrt atemlos auf die Zentnerlast, die an einem Haar über unseren Häuptern schaukelt. Und nun der Grund, warum ich so ausführlich an dich berichte, liebe Schwester.