Die vierzig Tage der Lagune. Erik Nolmans

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Die vierzig Tage der Lagune - Erik Nolmans

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das Publikum kommt in Stimmung, wir klatschen mit im Takt der Musik, die Jungs freut es und sie setzen noch einen drauf: Einen Cancan mit wehenden Röcken legen sie aufs Parkett, bei jedem Schwung ihre haarigen Beine zeigend.

      Das Publikum tobt und ich nutze die Gelegenheit, um aufs Klo zu gehen. Die Toilette ist im Zwischenraum beim Eingang, der Türsteher hat inzwischen alle Hände voll zu tun, die Leute drängeln auf der Brücke. «Das Boot ist voll», schreit er in die Menge hinaus, «wenn ich mehr Leute hereinlasse, sinkt es.»

      Das ist natürlich Unsinn, denn das Schiff liegt fest verankert am Ufer. Dennoch begrüsse ich seine strikte Haltung – die Luft wird jetzt schon knapp, gesättigt vom Schweiss der Tanzenden und vom Rauch unzähliger Zigaretten.

      Ich beschliesse, etwas frische Luft zu schnappen und nehme die Treppe, die aufs Oberdeck führt. Ich staune, wie ruhig es hier oben ist, nur wenige Gäste haben sich hierhin verirrt, obwohl der Ausblick phantastisch ist. Vor mir liegt die Lagune, rechts im Hintergrund ragt stolz die Kirche San Giorgio Maggiore in den Himmel. Hinter mir liegt das Quartier Castello. Nicht prächtige Paläste wie am Canal Grande gibt es hier, sondern normale Wohnhäuser, wie man sie überall in Norditalien findet, mit gelber oder ockerfarbener Fassade und grünen Fensterläden.

      Unzählige Fernsehantennen auf dem Dach wetteifern um die Signale der Fernsehstationen. Wer mag die Gunst der Bewohner wohl gerade gewinnen, Rai uno mit den Nachrichten, Rai due mit den Fussballpartien, oder, zu dieser späten Abendstunde, einer der Regionalsender mit den ewigen Telefonsex-Spots?

      Vor den Häusern stehen Kinderfahrräder. Im Gegensatz zu den engen Gassen um den Markusplatz finden sich hier in der Nähe der Biennale breite Alleen und grosszügige Parkanlagen. Die Mütter gehen tagsüber gerne mit ihren Kindern zu den Spielplätzen hinter dem Viale Trieste um Klatsch auszutauschen oder eine Tasse Kaffee aus der Thermosflasche zu trinken, die Halbwüchsigen tauschen dort ihre Fussballbildchen.

      Ich zünde mir eine Zigarette an, die erste heute. Ich rauche kaum noch, seit ich regelmässig laufe, meine fünf bis zehn Kilometer täglich, zuhause entlang dem See.

      Die Riva dei Sette Martiri ist fast menschenleer. Nur vor der Brücke unseres Schiffes staut sich immer noch eine Traube Menschen. Richtung Biennale ist die Promenade ausgestorben. Auf der anderen Seite, vor dem Dogenpalast, schlendern ein paar Leute, ich sehe sie ganz klein. Einer hat den Regenschirm aufgespannt, obwohl der Himmel wolkenlos ist. Das Grüppchen kommt langsam näher.

      Es ist kein Regenschirm.

      Sie ist es.

      Mit ihrem Hut.

      Ich kneife die Augen zusammen. Ja, sie muss es sein, die Frau von heute im Florian. Sie schlendert mit einer Gruppe von Leuten zum Hotel Danieli.

      Ich drücke die Zigarette aus und hetzte die Treppe hinunter. Auf der Landungsbrücke wird mein Elan gebremst, ich muss mich mühsam durch die anstehenden Partygäste zwängen. Endlich unten angekommen, realisiere ich, dass mein Mantel noch im Schiff ist. Es ist kalt nur in Hemd und Jackett. Doch ich will nicht wieder zurück, ich werde ja schnell laufen, meine Muskeln werden sicherlich etwas Wärme produzieren.

      Während ich über das Pflaster eile, verliere ich sie aus dem Blick. Ich hoffe, oben auf der nächsten Brücke freiere Sicht zu haben und sie zu erspähen, und in der Tat, ich habe Glück, ich sehe sie in der Ferne beim Eingang des Hotels, sie nimmt soeben den Hut ab, offensichtlich kommt sie mit dem Ungetüm nicht durch die Drehtür.

      Ich renne weiter über die Uferpromenade. Wenige Meter vor dem Hoteleingang bremse ich ab und stütze mich mit den Händen auf die Oberschenkel. Ich muss etwas verschnaufen, ich will keinen gehetzten Eindruck machen, sonst lassen mich die Hotelportiers möglicherweise nicht hinein. Nach einigen tiefen Atemzügen richte ich mich auf und gehe zur Tür. Am Eingang begrüssen mich zwei livrierte Hotelpagen mit dezentem Kopfnicken.

      Aus der Bar am Ende des Eingangssaals tönt klassische Musik, ein paar Gäste stehen am Tresen, in den Lederfauteuils in der Lobby lümmeln sich mehrere Amerikaner, sie sprechen lautstark dem Whisky zu. Doch wo ist die Frau mit dem Hut? Ich steige die Treppe hinauf in das obere Stockwerk, wo das Hotel jeweils seine Bälle abhält, und blicke durch die offene Eingangstür in den Ballsaal – nur wenige Leute befinden sich darin, das Fest scheint bereits vorbei zu sein.

      Ich setze mich im Vorraum auf eine lange Bank aus schwarzem Holz, sie steht an der Wand unter einem riesigen Gemälde, wie in einem Museum. Das Bild zeigt den Sieg der Venezianer gegen die Türken in der Schlacht von Lepanto im Jahre 1571, ein fürchterliches Gemetzel. Die Pause tut mir gut, ich atme tief durch. Doch mit einem Mal komme ich mir lächerlich vor, wie ich hier so sitze, allein unter den sterbenden Türken, erschöpft, weil ich einer wildfremden Frau nachgejagt bin. Sie ist wahrscheinlich längst in ihrem Zimmer in einem der Stockwerke über mir, macht sich zum Schlafen bereit, putzt sich die Zähne, schminkt sich ab.

      Ich strecke die Beine von mir. Die Arme verschränke ich über der Brust, mir ist immer noch etwas kalt. Ich spüre wie ich müde werde und schliesse für einen Moment die Augen. Ich könnte jetzt einschlafen, der Alkohol fordert seinen Tribut, ich wehre mich jedoch dagegen. Ich setze mich etwas bequemer hin, ganz in die Ecke der Bank, klappe den Kragen meines Jacketts hoch und bette den Kopf auf die hohe Armlehne. Wieder schliesse ich kurz die Augen. Die Musik im Hintergrund scheint leiser zu werden.

      Ich sinke langsam weg in den Schlaf. Ein paar Minuten will ich dösen, so viel gestehe ich mir zu, bevor ich mich auf den Rückweg mache, die Sache hier abbreche.

      Doch dann wird mein Körper unruhig. Durch die Dunkelheit und die wattierte Stille meldet sich ein Sinnesorgan, das offensichtlich nicht schläft: meine Nase. Sie sendet hektische Signale an mein Gehirn, die zielgerichtet ihren Weg durch die Schichten meines Schlafes finden. Ich rieche einen unverkennbaren Duft – den Duft einer Frau. Ich öffne die Augen – niemand ist da. Ich blinzle, drehe den Kopf. Niemand da. Ich sacke wieder in mich zusammen, lasse das Kinn auf die Brust sinken, und da sehe ich es: neben mir auf der Bank liegt ihr Hut.

      Ich bin schlagartig wach. Ich streiche mit den Fingern meine Strähnen aus dem Gesicht, reibe mit den Händen etwas Blut in meine dumpfen Wangen und setze mich aufrecht hin. Ich stehe auf und gehe zum Ballsaal, doch dort ist sie nicht. Ich eile mehrmals zwischen Saal und Bank hin und her, bleibe dann vor ihrem Hut stehen, nehme ihn in die Hand, halte ihn vor mein Gesicht und rieche daran.

      Wie ich ihn senke, um ihn wieder hinzulegen, sehe ich, dass sie neben mir steht.

      «Non rubarlo – nicht klauen», sagt sie lächelnd. Sie muss aus der Türe rechts hinten gekommen sein, ja natürlich, das Klo, sie hat den Hut nur schnell hingelegt, um auf die Toilette zu gehen.

      «Nein, nein, keine Angst», sage ich.

      «Nun, willst du mir meinen Hut nicht wiedergeben?», fragt sie etwas ungeduldig. Ich halte das Ding immer noch mit beiden Händen umklammert an die Brust gedrückt.

      «Natürlich», sage ich. Sie greift meine Hand, zieht sie etwas zu sich und nimmt mit der anderen ihren Hut. Dann setzt sie ihn auf.

      Er sitzt schief.

      «Moment», sage ich und nehme ihn ihr nochmals vom Kopf, sie streicht sich das Haar nach hinten, lehnt den Kopf brav etwas zurück und ich setze ihr den Hut wieder auf.

      «Danke», sagt sie, dreht sich um und gleitet davon in Richtung Ballsaal.

      Ich lasse mich auf die Holzbank fallen, suche meine Zigaretten, zünde mir eine an. Die Musik im Saal scheint mir noch leiser als zuvor. Ich stehe auf und gehe zum Saal. Im Türrahmen bleibe ich stehen; ich sehe sie mit ihren

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