Die vierzig Tage der Lagune. Erik Nolmans
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Читать онлайн книгу Die vierzig Tage der Lagune - Erik Nolmans страница 8
Filiberto steht auf, die Grissini-Stange, die er zum Salat knabberte, noch immer in der Hand. Im Aufstehen beisst er ein weiteres Stück ab, kauend lässt er den Blick schweifen über die Gästeschar am Tisch. Dann beginnt er zu reden, das Gebäck spitz in den Fingern wie ein Dirigent seinen Taktstock.
«Es freut mich, euch alle auch dieses Jahr wieder hier begrüssen zu dürfen», sagt er, macht eine kurze Pause, nimmt eine Serviette und wischt sich den Mund nochmals ab, um dann fortzufahren: «Ich hoffe, die Speisen stärken, beleben und erquicken euch. Mitternacht ist kurz vorbei, seit zehn Minuten ist Aschermittwoch und die Fastenzeit hat begonnen. In den kommenden vierzig Tagen bis zum Osterfest sind die Menschen dazu aufgerufen, Busse zu tun. Auch wir müssten unsere Festivitäten eigentlich nun beenden, doch ihr wisst, ich glaube nicht ans Fasten.» Wieder hält er kurz inne, diesmal um einen Schluck Wein zu nehmen. «Ich glaube aber an den Zucker, an die Eiweisse, an die Fette in diesen Speisen hier auf dem Tisch. Ich glaube an die Betriebsamkeit, die der Zucker auslöst, ich glaube an die Muskelmasse, die das Protein aufbaut, die euch die Kraft gibt zu tanzen, und ich glaube an das Fett, das eure Ärsche und Brüste formt. Ich wünsche euch guten Appetit meine Freunde. Der Winter war lang, lasst uns auf einen glühenden Sommer anstossen und darauf, dass wir uns nächstes Jahr alle hier wieder sehen.»
Er legt seinen Grissino nieder, die Leute klatschen, johlen, rufen: «Klar Filiberto» oder: «Mit dir immer». Anna schüttelt den Kopf, ein breites Grinsen im Gesicht: «Filiberto hat etwas den Hang zum Theatralischen», und greift in eine Schale mit Erdbeeren. Mit blossen Fingern tunkt sie die Leckerei in eine Tasse mit Sahne und will sie mir geben, doch ich schüttle den Kopf, ich hasse es, mich füttern zu lassen, doch das hat nichts mit Anna oder den Erdbeeren zu tun, ich mag ganz einfach keine unterwürfigen Gesten. Ich nehme mir selber eine Frucht aus der Schale. Anna ist wohl etwas beleidigt, denn sie stopft die Erdbeere meinem Bruder in den Mund, der sie annimmt, der elende Verräter.
Ich schaue betont lässig zur Seite, mustere etwas abwesend die Speisen und die Leute, doch plötzlich hält mein Blick inne, denn er fällt auf zwei weit aufgerissene Augen, Augen voller Angst. Sie gehören dem Asiaten, der uns am Eingang aufgefallen war, weil er so krank aussah. Inzwischen ist er noch bleicher, die fernöstliche Bräune ist völlig aus seiner Haut verschwunden, er ist weiss wie ein Nordländer – aber es ist ein ungesundes Weiss. Der Mann zittert am ganzen Körper, immer wieder richtet er den Oberkörper auf und saugt pfeifend die Luft ein, er scheint kurz vor dem Ersticken. Er verwendet seine ganze Kraft darauf zu atmen, seine Rückenmuskeln ziehen ihn bei jedem Zug nach oben, sein Adamsapfel zuckt am Hals, seine Adern an der Stirn stehen hervor.
Entsetzt schaue ich den Mann an, was hat er bloss, das sieht nicht gut aus. Auch die Gäste links und rechts von ihm werden auf das Schnaufen und Wimmern aufmerksam, der Mann neben ihm legt ihm den Arm auf die Schulter, er erntet den gleichen angstvollen Blick, den auch ich sah.
Ich suche Filiberto, der mustert ebenfalls die Szene, die Stirn gerunzelt, die Augen zusammengekniffen. Er steht auf und geht zu dem Mann hin, zusammen mit dem Tischnachbarn redet er auf den Unglücklichen ein. Nach einer Weile heben sie ihn aus seinem Stuhl, die Tischnachbarn rechts und links stützen den Kranken beim Aufstehen. Filiberto folgend tragen sie ihn aus dem Zimmer.
Die Episode scheint ansonsten keinen Eindruck hinterlassen zu haben. Die Leute essen weiter, lachen, lassen die Gläser klingen. Anna redet eifrig mit meinem Bruder, ich stehe auf, um aufs Klo zu gehen. Ich schlendere durch die Räume und Gänge; die Stimmung ist gut, die Leute vergnügen sich. Im Eckraum des ersten Stocks lässt sich eine Frau von drei Männern gleichzeitig bewundern, sie hat ihre Brüste entblösst und die Typen fingern abwechselnd an ihr herum. Auch die Schwulen sind guter Laune, im Korridor, der zur Küche führt, geben sie mir freundschaftliche Klapse auf den Hintern. Die Türe zum Badezimmer ist offen. Als ich eintrete sehe ich zwei Männer, sie sind nackt und küssen sich. Beide haben ein Piercing in der Eichel, breite Stahlringe, die Dinger schlagen metallen aneinander. Sie lassen sich nicht von mir stören, doch ich denke es ist besser, ich gehe ein Zimmer weiter. Ich muss wieder durch den Korridor zurück ans andere Ende, dort befindet sich noch ein Klo. Ich bin nicht der einzige mit diesem Vorhaben, sechs oder sieben Leuten stehen bereits in einer Warteschlange an. Das kann ein Weilchen dauern, ich setze mich im Flur auf den Boden. Ich lasse mich neben einer wunderschönen, braunhaarigen Frau nieder, die ebenfalls wartet. Sie zündet sich eine Zigarette an, ich frage sie, ob sie für mich auch eine habe, sie beugt sich zu mir und entschuldigt sich, sie verstehe mich leider nicht. Sie spreche nur katalanisch, sie komme aus Barcelona. Filiberto habe sie vor ein paar Tagen im Caffè Florian gesehen, zusammen mit ein paar Freundinnen, und habe sie eingeladen, so viel entnehme ich ihren wortreichen Schilderungen.
Ein Grossteil der Gäste hat auf ähnliche Weise den Weg hierher auf die Insel gefunden. In den ersten Tagen des Karnevals sammeln Filiberto und Maurizio – modernen Rattenfängern gleich –, die Jeunesse dorée Europas ein, in den Cafés der Stadt aber auch an den Festen in den Prunkpalazzi am Canal Grande.
Filiberto und Maurizio entstammen der altehrwürdigen venezianischen Patrizierfamilie Bertozzi – das öffnet ihnen viele Türen. Ihre Vorfahren waren mehrere hundert Jahre lang für die Verwaltung der griechischen Lehen der Republik Venedig zuständig. Ursprünglich stammt der Clan aus Torcello bei Burano. Doch der frühmittelalterliche Bischofssitz versumpfte nach und nach und wurde von den Bewohnern verlassen. Die Bertozzis zogen daraufhin nach Venedig selbst, überzogen aber die nahen Inseln in der Palude della Centrega und der Palude della Rosa mit zusätzlichen Prunkpalästen und Verwaltungsgebäuden. Heute ist davon eigentlich nur noch der Herrschaftssitz auf dieser Insel verblieben – und auch der wirkt etwas verfallen. An den Wänden hier im Flur lösen sich sogar schon die Seidentapeten von den Wänden, an der Decke hängen Fetzen herab – mit dem Reichtum der Familie kann es nicht mehr allzu weit her sein.
Die Spanierin leckt sich mit der Zunge über die Schneidezähne, streicht sich mit den Fingern durchs Haar und schaut dabei den Typen an der Spitze der Warteschlange an, einen wirklich gutaussehenden Mann mit schulterlangen, dunklen Haaren. Filiberto hat ein Auge für die Mischung aus Schönheit und Erlebnishunger, die den perfekten Gast für ihn ausmacht. Vielleicht ist es die Erfahrung aus vielen Jahren, die ihn die Leute so treffsicher auswählen lässt, er wittert die Getriebenheit, sieht es in ihren Augen, in den abwechselnd hetzenden und gehetzten Blicken. Leute aus Italien, Frankreich, Deutschland, England, Holland, der Schweiz, Ungarn oder Serbien – ihr gemeinsamer Pass ist der des Königreichs der Abgründe.
Ich stelle mich auf eine lange Wartezeit vor dem Klo ein. Die Leute in der Schlange vertreiben sich die Zeit, indem sie etwas zum Takt der Musik aus den Lautsprechern über uns tanzen, «This is my church, this is where I heal my hurts», gibt Faithless-Sänger Maxwell Fraser das Motto im gerade laufenden Song «God is a DJ» durch, und bald beginnen einige in die monotonen Wiederholungen der Liedzeile einzustimmen und mitzusingen. So vergeht die Zeit recht angenehm und bald ist die Spanierin an der Reihe, ihre Notdurft zu verrichten. Sie ist allerdings erstaunlich schnell wieder draussen, ihre Augen und Lippen zieht sie im Gang vor einem Spiegel nach.
Ich verstehe wieso: Die Toilette stinkt fürchterlich, es hat sich wohl kürzlich jemand übergeben. Ich beeile mich meine Blase zu entleeren, ich wasche die Hände und gehe wieder hinaus. In der Küche brennt Licht, leere Wein- und Wasserflaschen stehen zwischen Tellern mit Essensresten. Ich erblicke Luciano, bin erfreut, denn ich habe ihn vor Stunden aus den Augen verloren. Er hat eine der herumstehenden Flaschen an den Mund gesetzt und trinkt den Rest Wasser, der sich noch darin befindet. «Ich habe einen etwas trockenen Mund», sagt er. Er scheint mir ziemlich betrunken, seine Augen sind rot unterlaufen.
Filiberto kommt hinzu, einen besorgten Ausdruck auf