Die vierzig Tage der Lagune. Erik Nolmans
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Читать онлайн книгу Die vierzig Tage der Lagune - Erik Nolmans страница 10
Ich blicke ihr ein paar Sekunden lang nach, beschleunige dann meinen Aufbruch und hole sie mit ein paar schnellen Schritten ein. Wir gehen nebeneinander auf dem Weg Richtung Marmortreppe, schweigend, ich die Hände in den Hosentaschen, sie die Arme lose an den Seiten baumelnd.
Am Ufer bei der Treppe stehen die Holzstämme immer noch Spalier; sie sind vom Feuer ausgehöhlt, in unterschiedlichem Mass freilich, einige sind fast bis zum Boden abgebrannt, andere nur oberflächlich angesengt. Anna steckt die Hände in einen der Stämme und zieht sie schwarz vor Russ wieder heraus. Sie hebt die schmutzigen Klauen, streckt sie mir entgegen und stösst ein tiefes «Buh» aus. Das Monster, das sie darstellen will, schürzt die Lippen und kommt auf mich zu, bereit, die Krallen in mein Fleisch zu schlagen. Kurz vor mir bleibt sie stehen, lächelt und legt dann ihren schwarzen Zeigefinger auf meine Wange. Zwei Striche malt sie auf mein Gesicht, auf jeder Seite einen, der Russ dürfte auf meiner bleichen Haut einen besonders hässlichen Kontrast bilden.
Sie lässt mich stehen mit meiner Kriegsbemalung, schlüpft an mir vorbei und schreitet die Marmortreppe hinab bis ans Wasser. Auf der untersten Stufe geht sie in die Knie, senkt die Hände ins Wasser und wäscht den Schmutz ab.
Ich folge ihr bis zur Mitte der Treppe und setze mich auf eine der Stufen. Sie dreht sich um, sieht mich an und zottelt zu mir hin, im Näherkommen trocknet sie die Hände an ihren Hosen ab. Das Kleidungsstück gehört einem unbekannten Gast aus den Vorjahren, der Stoff riecht nach Mann, richtig muffig. Die Hose stammt aus einem der Schränke im obersten Stockwerk unseres Palazzo. Dort hat Filiberto die Kleider gesammelt, welche die Gäste nach den Carneval-Festivitäten der vergangenen Jahre jeweils zurückgelassen oder vergessen hatten.
Die Kleiderpracht wurde gestern verteilt, Filiberto stellte sich ans Geländer der Holztreppe und warf den Leuten Hemden, Blusen, Hosen, ja sogar Hüte und Schuhe zu – das Rudel hungriger Tiere nahm die Gaben gerne in Empfang. Er schien sein Tun zu geniessen, er macht aus allem ein Ritual, minutenlang segelten Kleidungsstücke hinunter, genüsslich langsam liess er sie aus seinen Händen gleiten. Es war für viele wie Manna in der Wüste, denn nicht wenige waren nur leicht bekleidet an das Fest gekommen, in der Überzeugung, der Wein und die Geselligkeit würden genügend Wärme spenden für die zu erwartenden paar Stunden bis zur Rückkehr ins behagliche Zuhause, weit weg von dieser vermaledeiten Insel der Bertozzis. Die Stadt hat uns zwar versprochen, Kleider zur Verfügung zu stellen, doch bis jetzt ist nur eine Lieferung von Armeematratzen und Wolldecken eingetroffen.
Anna scheint mit ihrer Wahl zufrieden – die Männerhose hat ein Sitzpolster, was ihr hier auf dem kalten Marmor vor dem Landungssteg zugute kommt. Ich lasse mich vom muffigen Geruch nicht aufhalten und lege den Arm um sie «Das Wasser sieht schmutzig aus», sagt sie während sie den Kopf auf meine Schulter bettet.
«Ja, ist wohl noch aufgewühlt vom gestrigen Sturm.»
«Wenn wir hier wegkommen, will ich an einen schönen Sandstrand. An eine dieser unendlich langen Küsten, an denen man stundenlang spazieren kann.»
«Die holländische Nordseeküste wäre schön.»
«Nein, ich will irgendwo hin, wo es heiss ist. Richtig schön tropisch heiss.»
Schweigend blicken wir auf das Wasser. Im Süden erkennt man die Festlandküste. Das muss Punta Sabbioni sein, der Landzipfel östlich des Lidos von Venedig, mit seinem kilometerlangen Sandstrand, der bis zum Ferienort Jesolo reicht. Im Herbst ist die Gegend dort fast menschenleer. Mit meiner Freundin Carla und ihren Kindern war ich dort, letztes Jahr. Wir haben Cappuccino in einem Strandcafé getrunken, die Kids haben uns den Schaum vom Kaffee stibitzt und Eis gelutscht. Wir haben alle im immer noch warmen Meerwasser gebadet und die Jungs haben im Sand mit den Plastiksoldaten gespielt, die sie von mir bekommen hatten.
Ich sammle für die Kinder auch die Spielzeug-Figürchen aus der chemischen Reinigung bei mir um die Ecke. Einmal die Woche bringt der Besitzer des Geschäfts, ein Chinese, meine gereinigten Hemden in dünnes Papier gehüllt zurück. Oben auf den Stapel legt er jeweils kleine Samurai-Kämpfer aus Plastik, einen pro Hemd, es gibt sie in fünf verschiedenen Farben. Ich sammle die Dinger bei mir zuhause in einer Dose neben dem Wäscheständer. Immer wenn sich die Figürchen darin häufen, weiss ich, dass es langsam Zeit wird, mich wieder einmal bei Carla zu melden. In letzter Zeit fruchtete dieses Mahnmal allerdings wenig – immer häufiger quollen die Figürchen aus dem übervollen Behälter.
Anna löst sich aus meiner Umarmung, beugt sich vor, streicht mit den Händen über den Marmor, pickt Steinchen vom Boden und sammelt sie in ihrer Hand. Dann beginnt sie die Kiesel ins Wasser zu werfen. Die meisten Würfe schaffen es nicht über die unterste Stufe hinaus, ich weiss nicht, ob sie nicht kräftig genug wirft, oder ob die Steine einfach zu klein sind.
«Ich habe das Bild immer noch vor Augen, wie sie Chang abgeholt haben», höre ich Anna sagen, «es war schrecklich. Das Ambulanz-Boot, die unheimlichen blauen Lichter, die Ärzte mit ihren Schutzmasken, das Entsetzen und der Ekel der Leute.»
Ich weiss genau, was sie meint, es gab einen Augenblick, in welchem die bildlichen Eindrücke derart stark waren, dass ich plötzlich nichts mehr hörte, ich war einen Moment lang absolut taub. Meine Augen beherrschten mein Empfinden, Signale drängelten von der Netzhaut durch den Sehnerv ins Gehirn und reihten sich ein in den Stau vor den Synapsen, es waren einfach zu viele Reize aufs Mal. Irgendein uralter Teil meines Gehirns beschloss wohl, es mache Sinn, die Ohren abzuschalten, doch ich hätte mir gewünscht, er hätte mir diese Bilder erspart, die mich im Schlaf einholen, seit vier Nächten nun schon. Das erste, was ich dann wieder hörte, war Luciano, der mich an der Schulter packte, mich schüttelte und fragte: «Alles okay?»
Ich weiss nicht, wo Anna in diesem Moment war, wir hatten uns im Durcheinander aus den Augen verloren. Ich glaube, sie war unten am Ufer mit Filiberto. Auch die Herren der Insel wirkten verstört, Filiberto und Maurizio liefen hin und her wie aufgescheuchte Hühner.
Als dann das Boot mit Chang langsam in der Lagune verschwand, machte sich eine Art Lähmung breit, die Leute bewegten sich kaum noch, niemand sprach, alle standen da, starrten mit geöffneten Mündern in die Nacht. Ich musste mich setzen, damit ich nicht umkippte, Luciano neben mir blieb stehen, die Hand auf meiner Schulter.
«Ich muss immer daran denken, was sein wird, wenn es mich erwischt. Ich will nicht so abgeholt werden», sagt Anna.
Ich lege wieder den Arm um sie, sie lässt die restlichen Steine aus der Hand fallen. «Was redest du denn für einen Unsinn», versuche ich sie zu beruhigen, «uns wird schon nichts passieren, du wirst sehen.»
«Vielleicht haben wir die Krankheit schon in uns. Von der Ansteckung bis zum Ausbruch kann es lange gehen. Es sind erst fünf Tage vorbei.»
«Du siehst nicht krank aus, du siehst wunderschön aus», will ich sie aufmuntern, doch sie geht nicht auf meine Worte ein.
«Ich weiss, wie es sich anfühlt, keine Luft zu bekommen», sagt sie gepresst, «ich hatte als Kind Asthma. Es ist, als ob dir ein Elefant auf der Brust sässe. Sein Gewicht droht dich zu ersticken. Und du hast nicht die Kraft ihn wegzudrücken, du hast nicht den Hauch einer Chance.»
Ich versuche mir auszumalen, wie sie ausgesehen hat als Kind. Sie hat erzählt, dass sie ein dickes Mädchen war. Wenn man sie heute sieht, kann man sich das kaum vorstellen. In der Nacht sei sie manchmal aus dem Zimmer geschlichen, um ihr Kopfkissen ins Gefrierfach zu legen, das töte die