Die vierzig Tage der Lagune. Erik Nolmans

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Die vierzig Tage der Lagune - Erik Nolmans

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sagt: «Komm mit!»

      Er führt ihn aus der Küche, ich eile hinterher, will meinen wieder gefundenen Freund nicht sogleich wieder verlieren.

      «Du bist doch Arzt?», fragt er.

      «Ja», sagt Luciano.

      «Ich fürchte, der Mann stirbt», sagt Filiberto.

      «Wer?»

      «Einer meiner Gäste. Er kommt aus Singapur. Er ist der Freund eines Freundes.»

      «Was fehlt ihm?»

      «Er hat Fieber und ist völlig geschwächt. Und er hustet immerzu, er bekommt fast keine Luft.»

      «Mit Lungen kenne ich mich nicht so gut aus», sagt Luciano zögernd.

      «Was ist denn dein Gebiet?»

      «Orthopädie. Ich arbeite in einer Privatklinik, die spezialisiert ist auf Handchirurgie.»

      Filiberto nimmt abrupt seinen Arm von Lucianos Schulter: «Was ist denn das für ein Scheiss?», herrscht er ihn an, «wer braucht schon einen gottverdammten Orthopäden?»

      «Lass mich den Mann einmal anschauen, mal sehen was sich tun lässt», erwidert Luciano erstaunlich ruhig.

      Filiberto nimmt ihn wieder bei der Schulter und zieht ihn mit. Luciano blickt nach hinten und winkt mir zu. Ich schlurfe weiter hinterher. Wir steigen eine Treppe hinauf in den zweiten Stock. Am Ende des Ganges steht eine Türe offen, Licht fällt heraus, ich höre Stimmen.

      Unter den Duvets eines Doppelbetts liegt ein Mann mit asiatischen Gesichtszügen, die Augen immer noch vor Schreck geweitet. Sein Atem geht in kurzen, asthmatischen Stössen. Auf dem Bettrand sitzt ein anderer Asiat und hält dem Kranken die Hand. Im Hintergrund, an die Wand gelehnt, steht Pedro Juan, er redet mit zwei gross gewachsenen Männern in Kostümen, ich glaube es sind die beiden, die den Kranken aus dem Festsaal getragen haben.

      Filiberto setzt sich zum Kranken aufs Bett. «Ein Arzt ist gekommen», sagt er und winkt Luciano heran. Ich laufe langsam zu Pedro Juan, er und seine beiden Gesprächspartner nicken mir zu, dann drehen wir uns alle vier dem Bett zu.

      Luciano hat sich neben den Kranken gesetzt, gibt ihm die Hand, stellt sich ihm auf Englisch vor.

      «Was hast du?», fragt er.

      «Ich bekomme keine Luft», japst der Angesprochene, «ich fühle mich so elend, ich kann kaum auf den Beinen stehen.»

      Die eine Gesichtshälfte des Kranken ist geschwollen und violett-rot, sein Haar nass geschwitzt.

      Luciano nimmt seinen Unterarm, um den Puls zu messen: «Leidest du an Asthma?»

      «Nein», stammelt der Kranke.

      «Allergien?»

      Er schüttelt den Kopf.

      «Hast du einen Fiebermesser?», fragt Luciano.

      «Dort, auf dem Tisch», sagt Filiberto, «aber wir haben schon gemessen. Über 40 Grad.»

      Luciano befiehlt dem Asiaten, das Hemd auszuziehen. Er setzt sein Ohr an die verschwitzte Brust, der Kranke muss auf seinen Befehl hin tief einatmen, er schafft es kaum, er hustet, japst, röchelt. Luciano schaut ihm in den Mund, unter die Augenlider.

      «Du hast eine starke Infektion der Lungen oder Bronchien», sagt Luciano und streicht dem Kranken übers nasse Haar, «aber ich bin kein Spezialist. Es ist besser, die Sache genauer abklären zu lassen.»

      Er steht auf und wendet sich an Filiberto: «Ich denke, wir müssen ein Ambulanzboot kommen lassen, er muss ins Spital.» Filiberto nickt. «Der Mann scheint mir ernsthaft krank», fährt Luciano fort, «diese Art von Lungenkrankheit ist etwas ungewöhnlich. Ich bin kein Fachmann, aber die Atemnot ist bei Lungenentzündungen in der Regel nicht derart akut.»

      Filiberto winkt Pedro Juan zu sich, gemeinsam verlassen sie den Raum.

      Langsam kommt Luciano auf mich zu, seine Stirn in Falten, er scheint über etwas nachzugrübeln. Unmittelbar vor uns bleibt er stehen und sagt, leise, damit es der Kranke nicht hört: «Sein ganzer Rachen ist voller Eiter. So etwas habe ich bisher noch nie gesehen.»

Kapitel II.

      II.

      1.

      Am fünften Tag der Quarantäne bricht das dünne Eis, auf dem wir seit der Nacht auf Aschermittwoch alle gehen. Es ist, als ob die Schritte auf den Holzböden anders zu klingen, die Räume im Palazzo anders zu riechen und die Menschen um uns herum anders auszusehen begännen – wir sinken ab in klamme Angst. Gevatter Furcht, der ungebetene Gast, die ersten Tage noch höflich geduldet, zieht jetzt eine Spur blanken Entsetzens. Man kann es deutlich spüren, wenn immer man die Haut eines anderen berührt, wie ich jetzt die von Anna. Ich drücke ihre Hand auf den Stein, sie lässt die Nagelschere fallen, diese fällt ins Wasser der Lagune.

      «Du sollst mir die Haare schneiden!», fordert sie mich nochmals zischend auf.

      «Ich soll dir mit einer Nagelschere die Haare schneiden, was ist denn das für ein Unsinn?», erwidere ich.

      «Dann mache ich es selber», sagt sie, bückt sich und sucht im untiefen Wasser nach der Schere.

      «Lass deine Haare wie sie sind, verdammt, lass deine Haare wie sie sind», herrsche ich sie an und ziehe sie an der Schulter zurück. Sie zittert unter meiner Hand, ich getraue mich nicht, sie anzusehen, starre hinaus in die Lagune. Ich spüre, dass mein fester Griff sie nicht zu täuschen vermag – mir fehlt die Kraft, ihr jene Ruhe und Sicherheit zu vermitteln, die sie jetzt braucht. Woher soll ich diese Kraft nehmen, ich, der ein Leben lang nie stark war? Wie schaffen es Leute bloss, sich zu verankern, wirklich Halt zu finden, ihren Platz zu wissen und hinzustehen, fest wie ein Fels? Wie erlangt man sie, diese Gravitas? Kraft verkörpert meine Hand nun wirklich nicht: auf ihrer Schulter liegt eine verkrampfte Klaue, mit knochigen, viel zu langen Fingern, und Adern, die sich blutleer unter der Haut zu verstecken versuchen.

      Nach einer Weile hört das Zittern ihrer Schulter auf. Sie setzt sich aufrecht hin und blickt den immer kleiner werdenden Wellen nach, welche sie im Wasser erzeugt hat. Ich bin froh, dass ich sie loslassen kann, um meine Arme vor der Brust zu verschränken. Natürlich ärgert sie meine Geste und so dreht sie sich zu mir um und fummelt mit der geretteten Nagelschere, die sie zwischen Zeigefinger und Daumen baumeln lässt, vor meinem Gesicht herum. «Willst du mich hypnotisieren?», frage ich leise. «Das bist du doch schon», gibt sie schnippisch zurück.

      Als sie mir länger in die Augen blickt, nimmt ihr Ärger aber ab, und sie hört mit der Bewegung auf. Sie legt die Schere auf den Boden und rückt näher an mich heran.

      Ich lege meinen Kopf auf ihren Rücken. Ihr Haar ist voller Blätter. Keine Ahnung, woher die stammen, der Herbst ist längst vorbei, im Gegenteil, Frühling wird es, oder sollte es werden, unsere Insel scheint gelähmt, auch der Boden, die Bäume, das Gras scheinen es zu spüren, die Vegetation scheint angehalten, kein einziges neues Blatt zeigt sich an den Ästen, obwohl es inzwischen Anfang März ist.

      «Nur herumsitzen und warten, das macht mich völlig fertig», sagt sie. Sie rückt von mir

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