Die vierzig Tage der Lagune. Erik Nolmans
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Читать онлайн книгу Die vierzig Tage der Lagune - Erik Nolmans страница 7
Plötzlich dreht sie sich. Blickt mich direkt an und sieht meine Hand dort oben in der Luft seltsame Verrenkungen machen. Ich zucke innerlich und ziehe dadurch meine Finger etwas zusammen, ein ungewollter Gruss entsteht, den sie freundlich erwidert, ihre Hand schnellt in die Luft, sie winkt mir zu.
Sie steht auf und kommt auf mich zu, ihr Blick ist skeptisch, wahrscheinlich ist sie sich nicht sicher, wer der Mann hinter der goldenen Maske ist. Sie vermutet aber richtig, «Vincent?», fragt sie, und ich will nicken, doch sie sagt: «Nein, warte», kniet sich vor mich hin und schliesst die Augen. Mit zugekniffenen Lidern nimmt sie mir den Hut ab, dann die Maske. Ihre Finger ertasten mein Gesicht, ein Spiel nur, das weiss ich, denn vielleicht kann ein Blinder das Gesicht eines Menschen nur mit dem Tastsinn erkennen, doch Anna dürfte dafür kaum die nötige Übung haben. Was solls – auch ich schliesse die Augen und taste nach ihren Wangen, was die Schattenhände schon taten darf jetzt auch meine Haut, sie anfassen, sie spüren. Sie lacht, streichelt meine Schläfen, die Maske hat dort tiefe Furchen gezeichnet. Das Ding drückt an vielen Stellen im Gesicht, doch dort besonders.
Sie muss inzwischen ihre Augen wieder geöffnet haben, jedenfalls küsst sie mich treffsicher auf die Augenlider, auch ich gebe das Spiel auf, sehe sie an. Ich ziehe ihren Körper an mich, wir küssen uns. Ich kann nicht sagen, dass der Kuss besser ist als unser erster, vor dem Hotel Danieli, aber dort fing ich draussen in der Kälte an zu zittern, na ja, nicht nur vor Kälte, ich war völlig durcheinander, jedenfalls zitterte ich und meine Zähne kratzten auf ihren. Doch dieser Kuss hier ist wärmer und dies nicht nur wegen der gut aufgedrehten Heizung in diesem Haus, nein, ihr Körper hat allerlei Säfte für mich gekocht und ist immer noch warm davon. Als Vorspeise gibt es ihren Speichel und, als ich ihren Hals küsse, ihren Schweiss; und natürlich bekomme ich Lust, sie auch zwischen den Beinen zu lecken, zu kosten was sonst noch in ihren Hormon- oder Drüsenpfännchen vorgegart wurde. Wer weiss, vielleicht habe ich ja Glück und der kalte Februarwind wird ihr, wenn wir später hinausgehen, um eine Zigarette zu rauchen, eine Träne aus dem Auge treiben und über ihre Wange rollen lassen, kristallen und salzig, damit ich auch diese kosten kann.
4.
Mitten im Saal steht ein Tisch, er füllt die ganze Länge des Raums, und das Zimmer ist gross, mit Abstand das grösste im Haus. «Portego» nennen die Einheimischen den zentralen Prunksaal eines Palazzos, der sich durch die ganze Gebäudetiefe zieht und sich meist im ersten Stockwerk befindet.
Als Eingänge zum Saal dienen die beiden Portale an der Seite, vor denen punktgenau die geschwungenen Treppen enden. Ein abgewetzter Perserteppich, von verbogenen Messingstangen hoffnungsvoll am Boden gehalten, weist den Weg.
Der Saal ist bereits gerammelt voll, ein Teil der Gäste hat am Tisch Platz genommen, doch die meisten stehen herum, schwatzen und lachen.
Beleuchtet wird das Zimmer von einem riesigen Kronleuchter, der hoch über dem Tisch schwebt. Nur einzelne Lichter sind an, in unregelmässigen Abständen, offenbar wurden die defekten Glühbirnen schon seit Jahren nicht mehr ausgewechselt. Als Ausgleich für das spärliche Licht stehen überall brennende Kerzen, auf dem Boden, auf dem Tisch, auf den Fensterbänken.
Gleich nach dem Portal versperrt eine seltsame Skulptur den Weg: auf einem massiven Sockel prangt eine Figur aus grünem Stein, der man ebenfalls eine brennende Kerze auf den Kopf gepflanzt hat. Es ist eine massstabgetreue Abbildung von Meister Yoda aus den Star Wars-Filmen. Die grünen Ärmchen hat er ausgestreckt wie die Statue Cristo Redentor auf dem Berg hoch über Rio de Janeiro, als ob er uns allen – einem milden Priester gleich – den Segen erteilen wollte.
Der altehrwürdige Yoda ist von unten bis oben mit Schmuck behangen, filigrane Goldkettchen und schwere Silberungetüme, wie sie US-Rapper tragen, wetteifern um den Platz an seinem Hals, an den spitzen Fingern prangen unzählige Ringe. Anna lächelt erfreut, wie wir vor ihm stehen und nickt ihm gar zu, als ob sie einen alten Bekannten begrüssen würde. Aufgeregt packt sie mich am Arm: «Wir müssen ihm eine Opfergabe hinterlassen, das bringt Glück», tut sie mir kund, «komm, wir müssen ihm unbedingt etwas geben!» Was sie ihm anbieten will ist mir allerdings ein Rätsel, denn sie trägt keinerlei Schmuck. Doch sie blickt mich herausfordernd an, bückt sich und geht leicht in die Knie, um den Slip unter ihrem Kleid auszuziehen. Elegant manövriert sie das Ding an ihren High Heels vorbei, während sie sich locker mit der Hand auf meinen Arm stützt. Vorsichtig hängt sie den Slip dann an den rechten Arm des Jedi-Meisters, und als sie sich lachend zu mir umdreht, scheint es, als ob sich auch über den steinernen Mund unseres Yoda ein Lächeln zöge, doch dieser Eindruck ist wohl eher dem flackenden Licht geschuldet.
«Nun kann uns ja nichts mehr geschehen», urteile ich, und sie hängt sich lachend bei mir ein, damit wir wie ein altvertrautes Pärchen zur Tafel schreiten können.
Der Esstisch ist ein Ungetüm aus dunkelbraunem Holz, matt lackiert und an der Oberfläche rau, ja furchig, einzelne Gläser stehen bedrohlich schief. Umso edler ist das Geschirr: Kristallgläser vor jedem Platz, eins für Weiss- und eins für Rotwein, Teller aus Porzellan, Messer, Gabeln und Löffel aus Silber. Das Essen dampft in den Schüsseln, riesige Mengen von Risotto Nero, dem Reis, schwarz von der Tinte der Sepien, der unsere Zähne dunkel färben wird. Filiberto scheint solche Sachen zu lieben, nichts darf zu blank sein, schon gar nicht unser Mund, unsere Zunge, unsere Lippen.
Es gibt aber auch Töpfe mit Lammrücken und Huhn, Platten mit Fisch, etwa Sogliola oder Loup de Mer, dazu allerlei Beilagen wie Bohnen oder das lokale Gemüse Cima di Rapa.
Vitus sitzt bereits am Tisch, wir lassen uns neben ihm nieder. Mein Bruder versucht ein wenig mit einem Mädchen zu flirten, das ihm gegenübersitzt. Doch der Lärm im Raum vereinfacht die Konversation nicht eben; zudem spricht die Frau weder englisch noch italienisch, und so lässt er es bald bleiben.
Ich beuge mich vor, um eine der Rotweinflaschen zu ergattern, die auf dem Tisch herumstehen. Doch sie sind alle verschlossen, kein Flaschenöffner weit und breit. Als Vitus meinen ratlosen Blick sieht, schnappt er sich eine Flasche, geht damit zum Portal und beginnt sie rhythmisch an den Türrahmen zu schlagen. Und in der Tat: der hin und her schwappende Inhalt drückt den Zapfen nach und nach hinaus. Stolz kehrt Vitus mit seiner Trophäe zurück: «Habe ich von einem Clochard in Paris gelernt», sagt er und schenkt uns ein.
Links neben uns hat sich eine junge Französin niedergelassen, die eine Kette um den Hals trägt, an der winzige Glasfläschlein hängen. Da sei Absinth drin, verrät sie, sie braue das Getränk in der Badewanne ihrer Studentenbude. Anna wirft ein, das sei doch das Zeug von dem der Maler Vincent van Gogh wahnsinnig geworden sei und sich dann das Ohr abgeschnitten habe, doch die Französin verteidigt ihr Produkt mit Verve: Unsinn, Absinth werde nicht umsonst die «grüne Fee» genannt, denn wie ein Märchenwesen bringe das Getränk Glück und Wohlbehagen, man müsse nur mit der Dosis aufpassen, aber das sei ja bei allem so.
Wir bekommen je eine der Ampullen von ihr, zupfen den winzigen Zapfen vom Glas und nehmen einen Schluck. Viel mehr als ein paar Tropfen auf die Zunge gibt die Sache nicht her, aber immerhin: ein leicht bitterer Geschmack breitet sich im Gaumen aus, echt lecker.
Ich spüre, dass ich nun richtig Hunger habe und gehe ein paar Stühle weiter, um mir einen der sorgfältig filetierten Fische zu holen. Dazu etwas Reis und Gemüse, wunderbar. Anna deutet mit heftigen Handbewegungen an, ich solle viel auf den Teller laden, dann könnten wir zu zweit davon essen. Und so kehre ich mit einem reichlich überladenen Teller an meinen Platz zurück.
Das Dinner dauert mehrere Stunden, jeder kann essen wann er will, immer wieder werden neuen Schüsseln und Töpfe mit Essen aufgetischt, was kalt wird, wird zur Seite geschoben, halbvolle Teller werden auf dem Tisch liegen gelassen, in der Hoffnung, irgendjemand werde sie dann schon abräumen.
Einziger