Die vierzig Tage der Lagune. Erik Nolmans
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Читать онлайн книгу Die vierzig Tage der Lagune - Erik Nolmans страница 6
Um an der Gruppe vorbei zu kommen, müssen wir unsere triumvirale Front aufbrechen und hintereinander weitergehen. Die Türschwelle ist morsch, das Holz hier draussen muss bei Stürmen einiges ertragen, mitunter gar, wenn der Wind das Wasser von Osten her in die Lagune treibt, der Mond sich in seinen vorgespurten Bahnen abwendet und die Flut kommen lässt, dann treibt das Wetter nasse, salzige Böen bis hier hin, der Ersatz-Neptun da hinter uns hätte seine Freude daran, wie prachtvoll das Meer dem Land seinen Hass zeigen kann, noch immer verärgert darüber, dass ein paar Kaufleute im Mittelalter der Lagune mit Aufschüttungen Landteile abgerungen haben. Hunderte, in Venedig selbst sogar tausende Holzpfähle wurden von den Menschen in den Boden gerammt, um das Land zu befestigen, Nägel im Fleisch des Meeresgottes.
Der Eingangsraum ist sicher sechs Meter hoch. Die Wände sind weiss, oder besser gesagt, sie sind weiss unter einer Unzahl in schwarzer Farbe gemalter Wörter. Es sind offensichtlich Namen, nicht alphabetisch geordnet, aber säuberlich aufgelistet, von Wand zu Wand ziehen sich Zeile für Zeile einheitlich grosse Buchstaben.
Aufgelockert wird das strenge Konzept nur durch die unterschiedliche Länge der Namen.
Ein paar Wörter erkenne ich, Maurizio Bertozzi steht dort, nicht grösser als die anderen Namen, und ja, vorne an der Wand, ganz unten steht auch ihr Name, Anna, Anna van Landsmeer.
«Filibertos Gästeliste. Vor zehn Jahren hat er damit angefangen, jetzt sind die Wände schon fast voll», sagt der Grauhaarige, den Hut inzwischen wieder auf dem Kopf, die Zigarre im Mund, und gibt uns die Hand: «Ich bin Pedro Juan, ich male die Buchstaben.»
Wir müssen ihm unsere Namen nennen, er schaut auf der Liste kurz nach, dann geht er zum Tisch in der Ecke, nimmt einen der bereitstehenden Pinsel aus dem Glas, packt einen Farbtopf, verschiebt mit dem Fuss ein Kissen, das vor der Wand am Boden liegt, kniet nieder und listet unsere Namen fein säuberlich auf.
Dann dürfen wir weitergehen, die Treppe hinauf in den ersten Stock. Sie führt steil nach oben, links und rechts in einem Bogen endend. Auf den Stufen sitzen drei Frauen in eleganten Abendkleidern. Als wir vorbeigehen packen sie ihre Weingläser, damit wir sie mit unseren Umhängen nicht versehentlich umstossen. Sie sind barfuss, drei Paar hochhackige Gucci-Pumps stehen auf der Treppe, auch sie werden festgehalten, um sie vor unseren langen Mänteln zu schützen.
Schräg gegenüber umarmt ein grossgewachsener Mann mit platinblond gefärbten Haaren einen jungen Asiaten, küsst ihn auf den Hals, streichelt ihm das Haar. Der Umworbene hat wunderschöne Mandelaugen, leicht geschminkt hat er sich, mit einem Kajalstift die Augenlider umrandet, er ist sehr attraktiv. Etwas Weibliches in die Augen zu zaubern kann auch einem Mann ganz gut gelingen. Nur die typischen Bewegungen einer Frau bekommen Männer kaum je hin – was sie aufführen, ist bestenfalls eine Karikatur weiblicher Eleganz. Auch der mandeläugige Bursche beherrscht es nicht, er kichert verstohlen, als ihm der Blonde die Zunge ins Ohr streckt, verkrampft hat er die Arme an den Körper gedrückt, die Hände flattern auf und ab wie bei einem jungen Vögelchen. Vor ihm am Boden sitzt ein anderer Asiat, er weint und sieht elend aus, als ob er sich bald übergeben müsste.
Am Treppenende kommen wir nicht weiter, der Korridor ist gefüllt mit dutzenden Kostümierten, die herumstehen, trinken, lachen. Eine Frau hat sich als menschliche Früchteschale verkleidet, vier Männer versuchen, sie auf einem grossen Tablett über die Menge zu tragen, sie hat sich unzählige grüne Ballone angeklebt, welche wohl Trauben darstellen sollen. Mit jedem Schritt fallen Äpfel, Birnen oder Orangen vom Tablett und werden von den drängelnden Füssen am Boden zu Brei getreten.
Wir bahnen uns einen Weg ins Zimmer seitlich des Ganges, dort scheint es etwas ruhiger zu sein, antike Sofas mit Holztischen davor stehen herum. Ich will weitergehen und drehe mich zu den anderen um, doch Vitus und Luciano folgen mir nicht. Sie befinden sich im eifrigen Gespräch mit zwei maskierten Frauen in aufgeplusterten Röcken, die Damen machen betont theatralisch höfliche Knickse, mein Bruder zieht den Hut und schüttelt seine lange Mähne, Luciano streckt die Brust raus und beugt sich näher zu den Mädchen hin, um sie mit geflüsterten Schmeicheleien einzudecken.
Ich gehe alleine weiter in den nächsten Raum, es muss ein Eckzimmer sein, denn sowohl vorne wie an der Seite befinden sich Fenster. Auf dem Boden stehen Kandelaber mit brennenden Kerzen, der Wachs tropft auf den Boden. Ich sehe Filiberto, er ist umringt von einer Gruppe von Gästen, die ihm aufmerksam zuhören. Die Leute lachen, strecken die Gläser in die Höhe. Filiberto packt jemanden am Arm und schüttelt ihn. Das Glas in der Hand des Mannes schwankt bedrohlich, der Wein schwappt über den Rand und begiesst zwei Frauen, die neben ihm stehen. Diese zucken erschreckt zusammen, doch dann lachen sie und frotzeln den Unglücklichen, heben den Kopf und strecken die Zunge weit hinaus. Der Mann muss den Rest des Weines in ihre Münder tropfen lassen.
Das nächste Zimmer ist ähnlich gross aber nur dämmrig beleuchtet. Auch hier stehen Plüschfauteuils. Die Fenster stehen weit offen und geben den Blick aufs Wasser frei, irgendwo im Hintergrund muss Torcello liegen.
Auf einer der Fensterbänke sitzt Anna. Sie befindet sich im eifrigen Gespräch mit Maurizio, er scheint mir ziemlich betrunken, denn er schwankt selbst im Sitzen. Er stützt sich auf einen Arm, mit dem anderen streichelt er weinselig über Annas Haare. Sie schaut nur kurz auf zu mir und wendet sich dann wieder Maurizio zu. Ich bin verwirrt, ja erschreckt, doch dann realisiere ich, dass sie mich ja gar nicht erkennen kann hinter meiner Maske.
Ich setze mich auf eines der Sofas und beobachte sie. Hut und Musketierhemd hat sie gegen ein schlichtes schwarzes Kleid getauscht. Wie schön ihr Mund ist. Von ihren Schneidezähnen zur Unterlippe zieht sich ein dünner Speichelfaden, ein kleiner Tropfen gleitet daran entlang nach unten. Ihr dunkles Haar ist glatt und glänzend, ich verstehe, dass Maurizio seine Finger nicht von ihr lassen kann.
Ihre Bewegungen sind langsam und kontrolliert. Irgendwann wird sie mir erzählen, dass sie als kleines Mädchen Woche für Woche Ballettstunden über sich ergehen lassen musste und dass sie es hasste. Doch die Grazie, mit der sie jetzt ihren schmalen Fuss nach vorne streckt in ihrem eleganten Schuh, die Zehen unter den schmalen Lederriemen sanft bewegt und den Absatz leicht wippen lässt, ist beste Reklame für das Institut.
Jemand muss hinter mir irgendwo eine Lampe angeknipst haben, mit einem Mal fällt grelles Licht ins Zimmer. Es stört Anna offenbar nicht, nur Maurizio zuckt etwas zusammen, blinzelt, schüttelt den Kopf und fährt dann fort, ihr Haar zu streicheln, etwas zu mechanisch wohl, denn sie drückt seine Hand sanft weg, rutscht mit dem Po etwas nach vorne und lehnt sich mit dem Rücken an den Fensterrahmen. Sie dreht den Kopf weg, blickt hinaus ins Dunkel.
Der Lichtkegel zeichnet die Konturen meines Körpers auf die Wand neben ihr. Wenn ich mich ein wenig bewege, verdecke ich sie mit meinem Schatten. Ich strecke meine Finger ins Licht, meine überdimensionale Schattenhand verdunkelt ihren Nacken. Ich gehe mit der Hand nach vorn, meine Finger werden kleiner.
Als ich klein war, liebte ich Schattenspiele; gruslige Figuren projizierten Vitus und ich auf die Wand in unserem Kinderzimmer. Jetzt muss ihr Körper als Leinwand hinhalten: Ich taste mit meinen Schattenfingern ihren Hals herunter, führe die dunklen Gesandten zu ihren Brüsten, seitlich dem Becken entlang gleiten sie nach unten, über den Aussenschenkel ihres Beins