Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Milchbrüder, beide - Bernt Spiegel страница 47
„Und das spürt dann der Geiger?“
„Ja, sofort, und zwar verbunden mit einem großen Glücksgefühl, so ist es jedenfalls bei mir. Nicht nur ich stelle mich auf die Violine ein, sondern, umgekehrt, die Violine auch auf mich – darum würde ich es ja auch sofort merken, wenn zufällig jemand anderes auf meinem Instrument gespielt hätte.“
Der höchste Grad eines solchen Einswerdens sei bei ihr übrigens erreicht gewesen, fuhr Sabine nach einer kleinen Pause fort, als sie eines Tages während eines Konzerts gespürt habe, dass nicht nur die Violine mit ihr, sondern ebenso auch sie mit dem ganzen Orchester verschmolzen gewesen sei und es nur noch ein einziges gemeinsames Tun gegeben habe. Dieses gemeinsame Tun habe nicht nur darin bestanden, dass die Handlungen jedes einzelnen Mitglieds genauestens gleichgerichtet gewesen seien – das erreiche jedes ordentliche Orchester –, sondern dass die ganzen Einzelhandlungen bei all ihrer Verschiedenartigkeit nur noch eine einzige gemeinsame Handlung darstellten, wenngleich sie auf viele Personen verteilt gewesen sei.
Viktor spürte, wie schwer Sabine die Beschreibung dieser subtilen Vorgänge fiel, und versuchte sie zu ermuntern, indem er bestätigte: „Das ist alles sehr schwer in Worte zu fassen.“
„Mit dem ganzen Orchester eine wirkliche Einheit zu bilden, das ist eines der großartigsten Gefühle, die es für einen Solisten gibt! Und doch muss man aufpassen, dass man nicht in der wunderbaren Geborgenheit des Orchesters versinkt. Man muss jedes Mal wieder raus, sonst geht man als Solist im Wohlbehagen unter. Wie schon so mancher.“
„Dieses Entstehen einer Einheit ist wohl bei allen Instrumenten so, meinst du nicht?“
„Sicherlich, aber wahrscheinlich bei den Streichinstrumenten besonders ausgeprägt.“
„Ich erinnere mich, Onkel Max, der Bruder von meinem Vater, war ja ein großer Ruderer vor dem Herrn, und der erzählte von seinem Achter bei der Amicitia etwas ganz Ähnliches –“, Viktor unterbrach sich, „entschuldige, wenn ich dein Violinspiel unpassenderweise mit dem Rudern vergleiche!“
„Nein, nein, ist schon recht, Viktor.“
Sofern die Mannschaft genügend gemeinsam trainiert habe, führte Viktor aus, sei irgendwann nach dem Start das zwingende Erlebnis aufgekommen ‚Jetzt läuft er!‘, und zwar ganz plötzlich und für alle gleichzeitig und mit dem Gefühl großer Gewissheit. Es sei gewesen, als ob das Boot plötzlich schwebte, fast widerstandslos dahinglitte. Von da an sei auch das Zusammenspiel perfekt gewesen. Die seien also plötzlich eine Einheit geworden, wie Sabine das vorhin genannt habe. Und sie hätten dann plötzlich alle acht nur noch eine einzige, eine gemeinsame Identität besessen und jeder seine Einzelidentität gewissermaßen aufgegeben.
„Du hast da vorhin etwas Ähnliches angedeutet“, fuhr Viktor fort, „nämlich dass der Solist, der in einem ganzen Orchester aufgegangen ist, irgendwie schauen muss – nicht, so war es doch? –, dass er seine Identität wiedererlangt.“
„Viktor!“, rief da Sabine überrascht, „genau das ist es! Denk doch bloß an unsere großen Orchester! Vor allem auch an Dirigent und Orchester, die nicht durch die geringste Ungleichzeitigkeit voneinander getrennt sind – obwohl doch der eine dirigiert, also etwas vorgibt, und die anderen ihm folgen – aber die folgen ihm gar nicht, jedenfalls nicht im Sinne von nachfolgen, sondern beides – vorgegeben und folgen – geschieht gleichzeitig.“
„Mir hat einer beim Zusammensitzen nach einer Probe einmal gesagt, das Gehirn des Geigers nehme das Instrument als einen Teil des eigenen Körpers wahr. Da hatte er mit diesem ‚Teil des eigenen Körpers‘ schon recht, aber erklärt war damit noch überhaupt nichts, es ist nur mit anderen Worten beschrieben und klingt etwas umständlicher, und der Dr. Fellgiebel vom Chor, der auch mit dabeisaß und der ja was vom Gehirn versteht, der hat abgewinkt und ihm gesagt, ‚Das hat dir dein Gehirnforscher da in Heidelberg eingeblasen, aber das Gehirn, das Gehirn, das nimmt überhaupt nichts wahr, genauso wenig wie es friert, wenn mir kalt ist‘. – Find’ ich gut“, meinte Sabine. –
Es war noch viel Zeit bis zum Semesterbeginn, und so übernahm Viktor im Verlauf der folgenden Wochen alle möglichen Aufgaben im Hause Strauss, um Sabine zu helfen, damit sie möglichst viel Zeit für ihr nimmermüdes Üben hatte, Violintraining, wie sie es neuerdings immer öfter nannte.
Das waren Botengänge und Besorgungen, zum Teil auch für Sabines Vater; Literatur- und Notenbeschaffung, manchmal auch in Heidelberg drüben, wozu auch die Beschaffung von Schallplatten gehörte; das Ausschneiden wichtiger Besprechungen aus den Zeitungen; und vor allem ‚Viktors Technischer Dienst‘, wie er vergnügt prahlte, der sich mit allem befasste, was das Instrument selbst betraf. Das war die Beschaffung und die gemeinsame Auswahl von immer wieder neuen Sorten von Kolophonium, worauf Bienchen besonderen Wert zu legen schien, aber dann natürlich auch das Besorgen von allem möglichen Zubehör und die Bereitstellung von Ersatzsaiten verschiedener Beschaffenheit und Herkunft, bei deren geschwindem Austausch Viktor Sabine bald übertraf. Wenn er dann gegen Abend für eine halbe Stunde zuhören konnte, empfand er das wie eine Belohnung, besonders dann, wenn Sabine manchmal die ganzen Stücke, an denen sie den Tag über gearbeitet hatte, noch einmal für ihn ‚aufführungsreif‘ und ganz ohne Korrekturwiederholungen zusammenstellte.
Am meisten aber machte sich Viktor um die Bögen verdient. Deren Bespannung, die aus Pferdeschweifhaaren besteht, unterliegt bei heftigem Gebrauch einen ziemlichen Verschleiß; immer wieder reißen einzelne Haare, die der Geiger dann, wenn er eine kurze Pause hat, mit einem kleinen Ruck herauszieht, bis schließlich eine Neubespannung fällig wird. Sabinens Geigenbauer aber, an sich ein tüchtiger Mann, brauchte für keine Lieferung, für keine Reparatur mehr Zeit als für die Neubespannung eines Bogens, die er in seiner Fachsprache befremdlich ‚Behaarung‘ oder ‚Neubehaarung‘ nannte. Immer wieder vertröstete er dann Viktor, dem jedoch die ungeduldige Sabine im Nacken saß; es war jedes Mal das Gleiche. Als der Geigenbauer wieder einmal nach mehreren Vertröstungen von Viktor besonders unnachgiebig bedrängt wurde, rückte er in seiner Not damit heraus, dass das ‚Behaaren‘ eines Bogens das Unangenehmste sei, was es in der ganzen Geigenbauerei gibt, woraus Viktor schloss, dass ihm wahrscheinlich diese Arbeit nicht besonders liege. In der Werkstatt hatte er an einem Bogen, der offenbar gerade in Arbeit war, gesehen, wie die Haare von einem kleinen trapezförmigen Keil durch ihren eigenen Zug festgeklemmt werden – sicherlich keine ganz einfache Geschichte, dachte Viktor, aber das müsste sich mit etwas Geschick und einigem Probieren bewerkstelligen lassen.
Das jedoch war ein großer Irrtum, wie sich alsbald herausstellte. Viktor