Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel
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Beachtung finden, beachtet werden, das war für alle in der Gruppe ein wichtiges Thema, für manchen, der vor seiner SA-Zeit arg herumgestoßen worden war, ein Lebensthema geradezu. Entsprechend ernst genommen hatten sich die jungen Männer nach der Ansprache des Standartenführers gefühlt, und umso mehr war ihre Bereitschaft gewachsen, sich noch enger zusammenzuschließen und sich als eine Gruppe der Besonderen immer mehr abzuheben von allen anderen. Auch Herkommer hatte nicht ohne Stolz dieses weitere Erstarken ihrer Gruppe verspürt, zugleich aber war ihm dabei zum ersten Mal aufgegangen, wie eingefangen er in dieser Gruppe war. Von da an hatte ihn dieser Gedanke, dass er eben zugleich auch ein Gefangener der Gruppe sei, häufiger einmal bedrängt, und es wurde ihm allmählich immer klarer, dass sie alle miteinander in ihrer Gruppe gefangen waren, weil sie sich gegenseitig gefangen hielten. Der anfangs so willkommene Zustand, die Wärme der Gruppe und die Übereinstimmung zu genießen, begann, seine Anziehungskraft zu verlieren. Die Vorstellung, ein kleines, aber eben auch wichtiges Rädchen zu sein, das sich zwar niemals aus eigenem Antrieb bewegt, aber in seinen Bewegungen in stetem Gleichtakt mit seinen Nachbarrädchen steht, dieses Gefühl war allmählich gar nicht mehr so erstrebenswert.
Der kleine Blasse hatte ihm einmal sogar gesagt, dass das ja gerade das Schöne in einer solchen Gruppe sei, dass man nichts selbst entscheiden müsse, man habe nichts weiter zu tun, als die Anordnungen zu befolgen, da könne man nichts weiter falsch machen und keiner würde einen hinterher für irgendetwas zur Verantwortung ziehen. Er würde überhaupt nicht verstehen, was da manche mit ihrer ‚Selbstbestimmung‘ wollten, das seien doch nur disziplinlose Künstlertypen und so, die nie gelernt hätten, zu gehorchen und sich einzuordnen, um gemeinsam mit anderen eine große Sache zu tragen. Klare Anweisungen, und seien sie noch so streng, das sei ihm viel wichtiger als die ganze Selbstbestimmerei. Alle späteren Vaterlandsverräter hätten erst einmal mit dem Gerede über Mitbestimmung und Selbstbestimmung angefangen, aber nicht mit Einordnen und die Klappe halten gefälligst, das könnten die nämlich nicht.
Da hatte Herkommer dann doch sehr aufgemerkt. So verworren das alles auch war, was er da hatte anhören müssen, eines war ihm dabei aufgegangen: Je mehr er sich der Gruppe unterwarf, je besser er sich einfügte und alle Verantwortung abgab, umso mehr ließ er sich in ihr auch treiben und umso mehr verlor er seine Initiative. Worunter er aber noch mehr litt, das spürte er erst jetzt so recht: Ob er wollte oder nicht, Einordnung führte bei ihm stets – und viel stärker wohl als bei seinen Kameraden – zur Unterordnung, zu einer sehr tiefen Unterordnung noch dazu, nicht nur gegenüber den direkten Vorgesetzten, sondern auch gegenüber der Gruppe und damit auch gegenüber den einzelnen Kameraden. Er fügte sich dann allem und jedem, erledigte widerspruchslos alles, was auf ihn zukam, und wurde natürlich auch entsprechend ausgenutzt. Einordnung bestand bei ihm so sehr aus Unterordnung, dass sie, nicht nur gegenüber seinen Vorgesetzten, sondern auch gegenüber den Kameraden, stets zugleich auch etwas Beflissenes, manchmal direkt Unterwürfiges hatte. Und dass Einordnung eben stets Unterordnung zu sein hat, das war ihm schon als Kind eingebläut worden, da kam er nicht gegen an.
Wie er so darüber nachdachte, war er sich mit einem Mal sicher gewesen: Ich darf einfach nicht in der Gruppe aufgehen, jedenfalls nicht ganz, so schön das manchmal auch wäre. Ich muss einfach hin und wieder den anderen gegenüber Widerstand leisten und ihnen auch einmal widersprechen. Ich muss auch gegenüber den Vorgesetzten meine eigenen Vorschläge vertreten – ich muss mich einfach freimachen von diesen Fesseln der Gruppe, von dieser Unterjochung, erst dann kann ich meine Fähigkeiten richtig entfalten und wieder Initiative entwickeln. Was sonst soll Führungsnachwuchs denn heißen?
Wenn Violet ihn einmal als den willfährigen und servilen Gruppenkuli sehen würde, war ihm noch in den Sinn gekommen, ihn, der allen zu Gefallen war, sie würde das nicht für möglich halten, und er müsste sich schämen.
Diese neu gewonnenen Einsichten waren Herkommer nicht nur einmal durch den Kopf gegangen und dann wieder verschwunden, wie das häufig so ist, sondern er musste wohl geahnt haben, wie wichtig sie für ihn waren. Und so hatten sie sich in Vorsätze verwandelt, die er sich jeden Abend aufs Neue ins Gedächtnis gerufen hatte, um den vergangenen Tag zu untersuchen, ob er sich schon gebessert hatte und wo er noch entschiedener hätte auftreten müssen. Herkommer spürte, dass er viel eigenständiger und selbstbewusster werden müsste, wenn er vorankommen wollte.
So versuchte er immer häufiger einmal, sich bei diesem oder jenem seiner Kameraden durchzusetzen und sogar dem Scharführer seinen eigenen Standpunkt zu erläutern, wenn er sich seiner Sache sicher war. Auch war es durchaus möglich, dass er, ganz im Gegensatz zu früher, selbst dann mit seiner Auffassung nicht hinter dem Berge hielt, wenn er wusste, dass er mit seiner Meinung im Augenblick noch allein stand. Gelegentlich hatte er dann auch einmal eine Putzfrau angeschnauzt, was er früher nie gewagt hätte, oder einen Handwerksburschen im Haus herumkommandiert, wenn ihm das notwendig erschien.
Es hatte nicht lange gedauert, da war auch im Verhalten seiner Kameraden eine Veränderung zu spüren gewesen. Nicht dass er unbeliebt geworden wäre, im Gegenteil, man beachtete ihn, man bemühte sich um ihn, viel mehr als früher. Man fragte ihn und setzte nicht mehr sein Einverständnis als selbstverständlich voraus. Bald wurde er ‚Herko‘ genannt und so auch gerufen, was er als Anerkennung verstanden hatte, und vorbei war es gewesen mit dem Spruch ‚Der Herkommer soll mal herkommen!‘, über den er sich immer geärgert hatte, als ob er das Mädchen für alles sei.
Als förderlich für seine Selbstbefreiung aus der allzu engen Einbindung hatte sich auch sein Eintritt in die Partei erwiesen, die er auf energisches Drängen seines Beschützers Eugen gerade noch rechtzeitig beantragt hatte. Denn nach dem Umsturz war die Zahl der Aufnahmeanträge dermaßen angeschwollen, dass die Partei eine jahrelange Aufnahmesperre erließ, die auch für SA-Mitglieder, obwohl diese eigentlich von der Sperre ausgenommen waren, den Eintritt erheblich erschwerte. Er gehörte also, gerade noch, zu den Märzgefallenen, wie sie von den alten Parteigenossen spöttisch genannt wurden, aber der Kreisleiter, der ihn als neuen Parteigenossen in einer Art willkommen geheißen hatte, als ob er ihn vorher noch nie gesehen hätte, sagte ihm, man dürfe da nicht ungerecht sein, denn viele dieser „Märzgefallenen“ seien Beamte oder Staatsangestellte, denen vor der Machtübernahme jede Parteizugehörigkeit verwehrt gewesen sei.
Es war nicht zu übersehen, dass ihn der Kreisleiter seit seinem Parteieintritt höher schätzte, ihn jedenfalls gegenüber den anderen Hauptamtlichen der Gruppe bevorzugte, was auch bald schon auf die verschiedenen Unterführer der SA abfärbte. Wenn für irgendeine anspruchsvollere Aufgabe ein Einzelner aus der Gruppe gebraucht wurde, dann wurde meistens nach ihm verlangt. Das begann Herkommer zwar hin und wieder lästig zu werden, war ihm aber dennoch willkommen, denn es bestätigte ihm, dass er es geschafft hatte; dass er sich schon genügend befreit hatte von der nivellierenden Gruppe und gewappnet war, wieder wie früher schwierige Aufgaben in eigener Verantwortung und ganz auf sich allein gestellt zu übernehmen, die sich dann alsbald auch einstellten. –
„Ich habe dich zu mir rufen lassen, Herko, weil ich eine ganz besondere Aufgabe für dich habe“, empfing ihn der Kreisleiter, ein jugendlich wirkender Mann Ende 30, in ungewöhnlich ruhigem Ton, „und ich wüsste im Moment sonst keinen, dem ich sie übertragen könnte.“
Er liebte es, junge Untergebene, vor allem wenn er sie mochte, mit ‚Du‘ anzureden, wobei er manchmal allerdings in einem einzigen Gespräch mehrmals zwischen ‚Du‘ und ‚Sie‘ hin und her sprang. Erfahrene Mitarbeiter wussten schon aus der Anrede den Charakter oder, bei einem plötzlichen Wechsel, den weiteren Fortgang eines Gespräches, das gewöhnlich ziemlich einseitig verlief, richtig einzuschätzen. ‚Du‘, das war die Umarmung, das war das Zur-Brust-nehmen, zugleich aber auch die Vereinnahmung des Gesprächspartners