Milchbrüder, beide. Bernt Spiegel
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Читать онлайн книгу Milchbrüder, beide - Bernt Spiegel страница 52
„Ich spreche hier nicht in meiner Eigenschaft als Kreisleiter, sondern als SA-Führer – eine Doppelfunktion übrigens, die nicht sehr bekannt ist, aber gar nicht so selten vorkommt. Wir stehen vor einer überaus schwierigen Frage. Mit ‚wir‘ meine ich nicht uns hier von der Partei, nicht uns von der hiesigen Kreisleitung, sondern die SA und zwar nicht die örtliche, sondern die SA überhaupt, also reichsweit gesehen.“
An dieser Stelle unterbrach er sich und fuhr in einem deutlich verschärften Ton fort: „Alles, was du jetzt hörst, ist GKdos! Absolut GKdos!“
„Was ist Gee-Kaa-doss?“ fragte Herkommer vorsichtig.
„Eine Geheime Kommandosache. Unterliegt also strengster Geheimhaltung, nicht nur nach außen, sondern auch hier innerhalb des Hauses. Wenn du mit jemandem darüber reden willst, dann ausschließlich mit mir; ich stehe dir bis zur Abfahrt deines Zuges heute Abend jederzeit zur Verfügung, das weißt du. Deine Aufgabe wird darin bestehen, schleunigst nach Berlin zu fahren und die Baulichkeiten einer bestimmten Adresse, die ich dir mitgeben werde, auszukundschaften.“
‚Baulichkeiten‘ hat er gesagt, was er damit wohl meint, fragte sich Herkommer, aber der Kreisleiter fuhr bereits fort:
„Uns interessiert: die Zahl der Räume dort; die Größe der Räume; wenn möglich die ungefähre Grundfläche jedes Raumes, also zum Beispiel ‚circa 4 auf 7 Meter‘ oder so; ferner vorhandene Verbindungstüren zwischen den Räumen, also etwa: einfache Türen, zweiflüglige Türen, Schiebetüren und so weiter; dann auch die Breite der Treppen, mindestens der Treppe vom Parterre zum ersten Obergeschoss; ebenso die Breite des Eingangsportals – ist es etwa zweiflüglig? – und die Gestaltung der Freitreppe außen, falls vorhanden, und so weiter. Mit diesen Fragen geht es uns darum, ein Bild darüber zu gewinnen, ob das Gebäude für uns groß genug und vor allem genügend repräsentativ ist, verstehst du?
Ich will dir auch die Hintergründe erklären, Herkommer, dann siehst du, warum die Sache so streng geheim ist. Der Führer hat angeordnet, dass das Hauptquartier des Stabes der SA von München nach Berlin verlegt wird. Das ist sicherlich eine kluge Entscheidung, denn die SA ist inzwischen zu einem Millionenheer angewachsen, dagegen ist die Reichswehr mit ihren hunderttausend Männeken, so gut sie im Vergleich zur SA auch bewaffnet sein mag, nur ein winziges Häuflein. Auch wenn wir die gesamten Polizeikräfte noch dazurechnen, dann ist das immer noch ein verlorener Haufen, der beispielsweise eine auftrumpfende SA nicht in Schach halten könnte. Das ist der Grund, warum immer wieder diese blödsinnigen Gerüchte aufkommen, und die Heeresleitung, aber auch der Innenminister Frick immer wieder glauben, sich vor einer SA, die sich selbstständig machen könnte, fürchten zu müssen. Da kann es nur Vertrauen schaffen, wenn sich das Hauptquartier des SA-Stabes in nächster Nähe und damit direkt in der Hand des Führers befindet. Es wird immer wieder vergessen, dass kein anderer als der Führer selbst den Rang des ‚Obersten SA-Führers‘ innehat! – So, und für dieses SA-Hauptquartier ist nun von irgendeinem der Berliner Verwaltungsbonzen, wie wir unter der Hand erfahren haben, ein bestimmtes Objekt ausgeguckt worden, in das wir demnächst einziehen sollen. Den Stabschef Röhm interessiert es natürlich brennend, ob das Gebäude für unsere Zwecke überhaupt ausreichend ist und ob es unseren Bedürfnissen, aber vor allem auch unserer Bedeutung entspricht. Denn wenn wir uns querstellen wollen, kann das nicht früh genug geschehen.“
„Und ganz unter uns“, fuhr er leiser fort, „mich interessiert das auch persönlich, denn der Stabschef will mich mit nach Berlin nehmen – aber das ist natürlich auch streng vertraulich und weiß hier im Haus keiner! – Die ganze Angelegenheit ist deshalb so diffizil, weil die jetzigen Besitzer keinesfalls erfahren dürfen, dass sie das Gebäude räumen müssen, aber die fliegen in aller Kürze raus. Deshalb – und weil natürlich auch die Parteispitze in Berlin möglichst nicht erfahren soll, dass die SA schon heimlich Erkundigungen über dieses Objekt einholt –, deshalb wollten wir auch keinen aus dem Münchener Stab als Auskundschafter nach Berlin schicken – so etwas kann ja immer mal auffliegen –, sondern ich habe dem Obergruppenführer, der den ganzen Umzug leiten soll, vorgeschlagen, einen unserer Leute von hier zu nehmen, den in Berlin keiner kennt – und das bist du.
Wenn du also irgendwelche Probleme bekommst, wenn du irgendwo aussagen musst, was du da tust, dann überlege dir irgendetwas Vernünftiges, aber sag’ keinesfalls – hörst du: keinesfalls! –, dass du für die SA-Führung in München das Gebäude ausbaldowern sollst.
So, hier hast du die Adresse in Berlin, Herkommer. Und da quittierst du mir 100 Reichsmark in bar für die Bahnfahrt und den Aufenthalt in Berlin – hinterher genau abrechnen! Hier ist noch ein verschlossener Briefumschlag mit weiteren 100 Reichsmark für alle Fälle, den Klebestreifen mit dem Dienstsiegel nur im Notfall öffnen und alle Entnahmen auf dem Ausgabenzettel, der dabeiliegt, eintragen und die Belege und Quittungen dazulegen.“
Herkommer begann noch am gleichen Nachmittag damit, sich bis zur Abfahrt seines Zuges im Einschätzen der Quadratmeterzahl von Räumen zu üben; wer weiß, ob er in Berlin Gelegenheit haben würde, die Räume auszumessen. Das war ganz einfach, er musste nur das Schätzen kleinerer Strecken von vielleicht drei bis zehn Metern einigermaßen beherrschen, weshalb er den halben Nachmittag über einen Zollstock mit sich herumtrug. Er war erstaunt, wie rasch er sich mit seinen Schätzungen verbessern konnte. –
In Berlin Anhalter Bahnhof angekommen, studierte er in der Bahnhofshalle den am Ausgang angebrachten großen Stadtplan ‚Groß-Berlin‘ – meine Güte! – und dann den Plan ‚Berlin-Mitte‘ daneben. Die Adresse stand auf dem Zettel des Kreisleiters, ‚Voßstraße 1‘ hieß es da und war auf dem Stadtplan schnell gefunden. Er versuchte, sich den Weg dorthin einzuprägen und machte sich in sein Wachstuchheft, das er für das Aufmaß der Räume mitgenommen hatte, eine grobe Skizze.
Es war noch nicht einmal halb acht, so früh dürfte er auf keinen Fall dort erscheinen, die Leute dort schliefen noch, jedenfalls würden sie ihn wohl kaum in ihre Räume schauen lassen. So trank er im Bahnhofsrestaurant erst einmal einen Kaffee und schaute seine Skizze an.
„Voßstraße 1“, fragte er den Kellner, „ist das weit von hier?“
Der Kellner schüttelte den Kopf und stammelte etwas, was nicht recht zu verstehen war, offenbar ein Pole, aber da hörte er schon vom Nebentisch: „Da fahren Sie mit der U-Bahn bis zur Station Kaiserhof, da sind es dann nur noch ein paar Schritte.“
Aber er wollte zu Fuß gehen, es war ja noch so viel Zeit. Die Luft war frisch, der Tag begann klar, und trotz der frühen Stunde wehte schon ein böiger Wind. Er fröstelte ein wenig und schritt kräftig aus, es tat wohl, den Kopf nach der langen Bahnfahrt und dem vielen Rauch in den Abteilen auszulüften. Noch nie war er in einer so großen Stadt gewesen, doch schien er nicht im geringsten beeindruckt oder gar eingeschüchtert, im Gegenteil, er war gespannt auf seine Aufgabe, genoss seinen Marsch durch die erwachende Großstadt und spürte mit einem Mal, wie ihn ein Gefühl glücklicher Freiheit durchströmte. Das waren die Aufträge, wie er sie schätzte! Aufgaben, bei denen man auf sich allein gestellt ist; die man allein durchführen muss; bei denen man allein die Verantwortung trägt und alle Entscheidungen allein zu treffen hat; bei denen man aber dennoch weiß, dass man nicht ein verlorener Einzelgänger ist, sondern sich getragen fühlen kann von einer großen Zahl von entschlossenen Männer, die hinter einem stehen, die auf einen vertrauen und gespannt dem Erfolg der Mission entgegenblicken.
Da und dort fragte er kurz nach dem Weg, nicht weil er sich verlaufen hätte, sondern eher um sich zu vergewissern. Die Berliner waren freundlich und kannten sich aus. Möglicherweise sind sie doch etwas heller, dachte er, oder einfach wacher?
„Nach