Mutter aller Schweine. Malu Halasa
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Читать онлайн книгу Mutter aller Schweine - Malu Halasa страница 6
»Laila hat gar keinen Ärger erwähnt«, räumt er langsam ein.
»Wird sie noch«, stimmt die Frau des Bürgermeisters wieder an und beschwert sich gleich: »Ich weiß einfach nicht, wann unser Land wieder normal wird und unsere Stadt wieder uns gehört.«
Frau Habaschs Gedächtnis erscheint Hussein höchst selektiv. Die Stadt hat ihnen nie gehört. Als ihre Großväter, Onkel und Väter – damals kleine Jungen – sich hier niederließen, umkämpften sie gemeinsam eine Wasserstelle gegen lokale Nomaden. Man muss nur ein paar Generationen zurückgehen, und immer flieht irgendwo irgendjemand oder sucht Zuflucht bei Fremden. Die gesamte Region blickt auf eine lange Geschichte der Vertreibung zurück. Die Syrer sind nicht die ersten Flüchtlinge, und sie werden auch nicht die letzten sein.
Um Frau Habasch abzulenken, merkt er schlaff an: »Ich verkaufe jetzt immer so viel Ziegenfleisch …«
»Die brauchen wohl billiges Fleisch für die ganzen Kinder«, sagt sie. »Da sehen Sie, warum die kein Geld haben.«
Plötzlich fühlt Hussein sich ausgelaugt. Der Morgen hat ihn bereits stark strapaziert. Zu viele Grenzen bestehen zwischen denen mit und denen ohne Geld. Sich selbst verortet er als irgendwo in der Mitte strauchelnd, wo er möglichst viel für seine Familie zu ergattern versucht, doch die meiste Zeit kommt er sich dabei wie ein Versager vor. Müdigkeit übermannt sein besseres Wissen. »Frau Habasch, wir alle mögen doch viele Kinder, ganz unabhängig von der Religion, oder?«
Die Frau des Bürgermeisters hat keinen Nachwuchs – die einzige Schwäche in ihrer sozialen Rüstung. Hussein ist es egal, dass er jetzt waghalsig ist. Noch unter Flüchtlingen stehen kinderlose Ehefrauen. Ihnen mangelt es an einer Bestimmung, darin sind sich alle einig. Ob christlich, muslimisch oder jüdisch, diese Frauen haben ihre Familie und ihren Gott im Stich gelassen.
Augenblicklich verhärtet sich Frau Habaschs Haltung, und sie zielt auf Husseins verwundbarsten Punkt: »Und, wie läuft das Geschäft?«
Bevor er antworten kann, erscheint Khaled hinter der Theke, voller Hühnerfedern. Stolz hält er ein frisch gerupftes Huhn in die Höhe.
»Wunderbar!« Enthusiastischer als nötig klopft Hussein dem Jungen auf den Rücken. Er wickelt das Huhn ein, sagt: »Bestens, Frau Habasch, einfach bestens«, und reicht es ihr.
Sie hat die Münzen bereits abgezählt. »Ich frage nur, weil Gerüchte kursieren, wissen Sie.«
Beim Hinausgehen hält sie die Eingangstür der Schlachterei weit offen. Hussein weiß genau, gleich kommentiert sie den desolaten Zustand seines Wagens. Um sich die Peinlichkeit zu ersparen, dreht er ihr den Rücken zu. In Ermangelung eines Publikums schlägt die Fliegengittertür hinter ihm zu. Das Scheppern bringt Khaled aus dem Hinterzimmer nach vorne, in seinen Armen gackert das geliebte Huhn.
Vielleicht ist der Junge gar nicht so blöd, denkt Hussein, aber seine Genugtuung währt nur kurz. »Bring’s zurück. Wir haben schon zu viel Zeit verloren.«
Gemeinsam packen sie Hammelfleisch in durchsichtige Plastiktüten. Das Fleisch ist für die Küche von Husseins Freund Matrub bestimmt, der heute Abend ein Festessen zur Hochzeit seiner ältesten Tochter veranstaltet.
Normalerweise ermahnt Hussein Khaled, bei seinen Botengängen nicht zu trödeln. Heute verspricht er ihm etwas netter: »Wenn du dich beeilst, haben die bestimmt Maamul für dich.« Die Aussicht auf Grießgebäck erhellt Khaleds Gesicht. Hussein geht hinter dem Jungen aus dem Geschäft und bleibt an der Hauptstraße stehen.
Die anderen Läden und Stände haben jetzt geöffnet, vor der Bäckerei bildet sich langsam eine Schlange. Vor dem Pilgerhotel die Straße runter steigen Baseballkappen und Schirmmützen in einen der Reisebusse, die das Heilige Land erkunden. Ihm gegenüber, auf der anderen Straßenseite des einzigen geteerten Abschnitts, ragt das Schnäppchen-Emporium in die Höhe, ein Warenlager unbeschreiblicher Ausmaße, erdacht und geführt von Abu Satar. Sofort will Hussein hinübergehen, die Aufmerksamkeit seines Onkels einfordern und ihm sein Herz ausschütten, doch der Anblick eines irakischen Lasters unter dem Neonschild des Emporiums hält ihn zurück. Er kennt Abu Satars Prioritäten nur zu gut. Fahrer mit potenziell lukrativen Ladungen sind wichtiger als Familienangelegenheiten. Dieser Lastwagen hat einen zusätzlichen Bonus. Er kommt aus einer Gegend, die für US-Restposten bekannt ist – recycelte Militärkleidung, abgepackte Nahrungsmittel jenseits des Haltbarkeitsdatums, sogar Ersatzteile für alte Klimaanlagen –, heiß begehrt und Abu Satars ungeteilter Aufmerksamkeit bedürftig. In den wenigen Minuten zwischen Begrüßungsgetränk und Entladen wird ein Handel abgeschlossen. »Woran sich ein hungriger Mann klammert, das verschenkt ein voller Magen« lautet einer der liebsten Aphorismen seines Onkels.
Früher hätte Hussein das amüsiert. Doch seit ihr gemeinsames Projekt ihm immer mehr Ärger einbringt, fragt er sich, ob er nicht einfach ein weiteres Opfer von Abu Satars Habgier geworden ist. Bei jeder Transaktion nimmt sich sein Onkel mehr als seinen gerechten Anteil am Gewinn – das ist nur zu erwarten. Doch bei diesem Geschäft hat Abu Satar es geschafft, dass die Unannehmlichkeiten und das soziale Stigma, denen Hussein ausgesetzt ist, ihn selbst nicht betreffen. Angewidert schürzt der Schlachter die Lippen, größtenteils aus Selbstekel. Er weiß, dass es sinnlos ist, sich über Abu Satar zu ärgern. Das neue Unbehagen in ihrem Verhältnis ist nicht die Schuld seines Onkels. Dessen Verhalten hat sich um keinen Deut geändert. Vielmehr hat inzwischen Hussein ein Problem mit Abu Satars Philosophie, Profit über alles andere zu stellen. Er seufzt und geht zurück in den Laden.
Solange er vor dem morgendlichen Ansturm noch allein ist, bückt er sich hinter der Theke und greift hinter einen der Kühlschränke. Er überprüft, ob ihn niemand sieht, und zieht verstohlen ein einfaches Einmachglas hervor, schraubt den Deckel ab und trinkt, lange und langsam. Der unverdünnte Arak ist Feuer in seiner Kehle, doch mit dem Brennen stellt sich auch die tiefe Ruhe ein, die er verlässlich, wenngleich nur vorübergehend, am Boden einer Flasche findet. Menschen wie Abu Satar und Frau Habasch sollten kein Monopol auf eine anständige Zukunft haben. Hussein will dieselben Chancen haben, weniger für sich selbst – dafür ist es zu spät – als für seine Söhne. Also hat er getan, was viele undenkbar gefunden hätten: Er hat das Land seines Vaters verkauft. Aufgrund dieser Eigeninitiative lebt seine Familie in einem neuen Haus. Doch kein Geldbetrag, daran erinnert ihn sein Onkel regelmäßig, ist jemals genug. Hussein blickt sich noch einmal um, dann greift er wieder rasch nach dem Glas und nimmt noch einen weiteren kräftigen Schluck.
Seit Abu Satar ihm das Schwein zum ersten Mal zeigte, wusste Hussein, dass der Weg zum Wohlstand kein leichter sein würde. Er hatte eigentlich nicht weiter als bis zum ersten Wurf gedacht und nahm an, die Ferkel müssten für einen einmaligen Mega-Verkauf gemästet werden. Dann würde das Geschäft wieder aufhören. Er hatte nicht mit den Instinkten der Tiere gerechnet. Kaum waren die jungen Eber entwöhnt, entwickelten sie den Aufsprungreflex. Zuerst versuchten sie es bei ihrer Mutter, dann untereinander, und schließlich richteten sie ihre Aufmerksamkeit auf ihre eigenen Schwestern. Hussein betrachtete sie und fragte sich allmählich, ob sich das Projekt als größer als gedacht herausstellen könnte.
Er wusste, dass Kastration die beste Methode war, damit die Eber schön fett wurden, beschloss jedoch, zwei von ihnen vor dem Messer zu verschonen. Er ließ sie bei ihrer Mutter und bei fünf ihrer Schwestern und brachte die restlichen dreizehn Ferkel in anderen Ställen unter. Die Männchen paarten sich mit ungehemmt genussvoller Triebhaftigkeit und schwelgten in dreizehnminütigen Orgasmen. Fasziniert stoppte Hussein sie mit einer taiwanesischen Stoppuhr (bis auf eine Zehntelsekunde exakt), die er sich aus dem Schnäppchen-Emporium geborgt hatte. Das Experiment zahlte sich aus. Gegen Ende des fünften Monats waren die Muttersau und drei ihrer Töchter trächtig. Der Rest des Wurfs