Leichen, die auf Kühe starren. Tatjana Kruse

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Leichen, die auf Kühe starren - Tatjana Kruse

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Terrain. Wäre es nicht zappenduster gewesen, hätte man sehen können, dass sich links und rechts steile Hänge in die Höhe zogen, mehr oder weniger bewaldet, aber definitiv ohne Häuser oder Hütten. Und da weit und breit kein fahrbarer Untersatz auszumachen war, war Beppis Fassungslosigkeit durchaus verständlich. Wie kam die Frau hierher?

      Beppi pustete wieder in seinen Schritt.

      „Ein Geist!“, hauchte Hansi in tremolierendem Bariton. Sie nannten ihn alle nur Nicht-der-Hinterseer. Außer sie hatten es eilig, dann nannten sie ihn Hansi, weil er halt so hieß. Verwechslungen mit dem echten Hansi hätte es so oder so nie gegeben, weil der falsche Hansi nämlich ein ganz dunkler Typ war. Nicht charakterlich, aber äußerlich.

      „Mach dich nicht nass“, erklärte Rudi. „Geister spuken in alten Gemäuern, nicht auf Landstraßen.“

      „Ja, aber die Toten der Verkehrsunfälle?“, hielt Manni dagegen. Hatten sie nicht gerade eben ein Kreuz mit einem Blumenstrauß davor gesehen? Hieß es nicht immer, dass Menschen, die den Tod nicht kommen sahen, weil alles so schnell ging, dazu verdammt waren, so lange am Ort ihres Dahinscheidens herumzuspuken, bis sie sich mit ihrem unverhofften Ableben abgefunden hatten? Was dauern konnte. Jahre. Jahrhunderte. Leute, die von einem Ochsenkarren umgenietet worden waren, spukten womöglich immer noch Seite an Seite mit den Opfern von Pferdekutschen und SUVs. Zumindest hatte Mannis Oma das immer gesagt. Laut seiner Großmutter waren die Landstraßen und Autobahnen dieser Welt von Geistern förmlich gesäumt. Eine Bordüre aus lauter Verblichenen.

      Manni schluckte schwer.

      „Oder sie ist die Ziege, mit der man den T-Rex ködert“, mutmaßte Beppi, der seinen Schritt wieder auf Normaltemperatur gepustet hatte.

      „Dinosaurier sind ausgestorben!“, erklärte Karl-Heinz.

      Karl-Heinz war ein Idiot. Grundsätzlich, aber auch, weil er nie Jurassic Park gesehen hatte. Er bevorzugte Fassbinder- und Lars-von-Trier-Filme.

      Die Unterstellung, er wisse nicht, dass es keine T-Rexe mehr gab, fraß an Beppi. „Das weiß ich! Ich meinte, eine Diebesbande will uns mit ihr als Lockvogel aus dem Wagen herauslocken und uns dann umnieten und ausrauben.“

      Manni presste sich die Nase an der Seitenscheibe platt und lugte in den finsteren Wald. „Ich sehe nichts.“

      Rudi versetzte ihm eine Kopfnuss.

      „Die steht da wie eine Salzsäule“, konstatierte Nicht-der-Hinterseer. „Ob die überhaupt echt ist?“

      Das stimmte. Die Frau schien nicht einmal zu blinzeln.

      Die fünf Männer – allesamt Mitglieder des Hinterseer-Fanclubs Rosengarten-Uttenhofen e. V. – beugten sich jetzt gemeinschaftlich nach vorn. In einer fließenden Bewegung. Wie Synchronschwimmer. Sie atmeten so heftig aus, dass die Windschutzscheibe beschlug. Karl-Heinz, der am Steuer saß, zog den Duschabzieher aus dem Ablagefach in der Fahrertür und sorgte für klaren Durchblick. Er betrachtete sich als Mann der Tat.

      Doch auch bei nunmehr bester Fernsicht schien die Frau starr wie eine Marmorstatue. Einem unbewussten Lemming-Reflex folgend reckten die fünf Männer unisono ihre Köpfe noch weiter nach vorn.

      Was jetzt auch die Frau tat. Ein unbeteiligter Dritter (rein rechnerisch ein unbeteiligter Siebter) hätte mutmaßen können, dass sie sich über die Männer lustig machte.

      „Huch, sie lebt!“, entfleuchte es Manni. Die Männer zogen ihre Köpfe wieder ein.

      „Was machen wir jetzt?“, fragte Beppi.

      Sie waren alle fünf gestandene Kerle. Angesehene Bürger ihrer süddeutschen Heimatgemeinde. Beppi und Manni arbeiteten in der Stadtverwaltung, Rudi leitete ein Versicherungsfilialenbüro, Nicht-der-Hinterseer war Schlosser, und Karl-Heinz, das ergab sich fast zwangsläufig aus dem Bindestrich in seinem Namen und dem Duschabzieher in der Fahrertür (den er mitgebracht hatte), war Lehrer. Für Französisch und Mathematik.

      Und natürlich war es Karl-Heinz, der sagte: „Wir fragen sie, ob sie Hilfe braucht.“ Er löste den Sicherheitsgurt, ruckelte seine Baskenmütze gerade und stieg aus.

      Die anderen sahen ihm nach.

      Karl-Heinz war mitnichten ihr Anführer. Sie hatten keine Numero uno in ihrer Truppe. Sie waren einfach fünf Männer, die eine Leidenschaft teilten – die Leidenschaft für Hansi Hinterseer. Also nicht für den Mann per se, sondern für das, wofür er stand: Musik, die ins Blut und ins Herz und in die Schunkel-Muskulatur ging. Leichtigkeit, Lässigkeit, lockere Männlichkeit. So wollten sie alle sein. Aber weil man bei Hinterseer-Fans an völlig enthemmte Matronen dachte – wie beispielsweise die Frau in dem YouTube-Video, die während einer Show von Hansi auf die Bühne sprang und mit ihm tanzte und einfach nicht wieder gehen wollte und von einem Ordner weggeführt werden musste –, also weil man gemeinhin Hinterseer-Fans nicht mit echten Kerlen assoziierte, war ihr Fanclub sowas wie ein Männergeheimbund, von dem niemand etwas wusste. Nicht die Ehefrauen von Rudi, Manni und Beppi und auch nicht die Mama von Nicht-der-Hinterseer. Karl-Heinz war Single. Man durfte aber davon ausgehen, dass seine beiden Wellensittiche aufgrund täglicher Beschallung durchaus eine Ahnung von seiner heimlichen Liebe hatten. Glücklicherweise hatte er ihnen nie das Sprechen beigebracht, und somit konnten die Federträger es auch nicht ausplaudern – beispielsweise gegenüber der Nachbarin von Karl-Heinz, die sich während seiner Abwesenheit um Amore und Mio kümmerte und sie mit Körnerfutter und Frischwasser versorgte. Ja, Karl-Heinz hatte seine Sittiche nach einem Hit von Hansi Hinterseer benannt. Und ja, das Geheimnis von Manni, Rudi, Beppi, Nicht-der-Hinterseer und Karl-Heinz war zu 99 Prozent sicher. Das einprozentige Restrisiko hatte einen Namen. Es hieß Manni. Weil der immer erst redete, bevor er dachte. Sehr oft dachte er auch einfach nicht.

      „Sollten wir nicht auch aussteigen und dem Karl-Heinz Rückendeckung geben?“, fragte Rudi.

      Manni, der viel zu früh viel zu viele Hollywoodhorrorfilme gesehen hatte, betätigte die Zentralverriegelung. „Nee, der Karl-Heinz macht das schon.“

      Sie sahen zu, wie sich Karl-Heinz der Erscheinung näherte.

      Eigentlich waren die fünf auf einer Pilgerfahrt nach Kitzbühel. In der Hoffnung, Hansi Hinterseer zu begegnen. Und um etwas zu erledigen. Etwas Großes. Eine Mission Impossible. Sie fühlten sich alle ein bisschen wie Tom Cruise, der das Unmögliche möglich machte, ohne dass dabei seine Föhnwelle auch nur ein einziges Mal verrutschte.

      Sie hatten sich den Kleinbus von Beppis Frau Gabi ausgeborgt, die ihr Geld als mobile „Frisöse und Maniköse“ verdiente. Beppis Worte. Deswegen auch die Flügel auf dem himmelblauen Wagen – weil Gabi „ein Engel war, der Schönheit und Wohlbefinden selbst in die entlegensten Ortschaften brachte, sowie zu Frauen und Männern und Nicht-Binären, die aufgrund von Einschränkungen das Haus nicht verlassen konnten und dennoch nach Ästhetik lechzten“. Gabis Worte.

      Dummerweise hatte Gabi kein GPS in ihrem mobilen Schönheitsstudio, nur auf ihrem Handy. Und die Handys der Männer waren – wie immer gegen Monatsende – wegen des vielen Streamens schon an ihrer Volumengrenze. So hatten sie sich nach der letzten Pinkelpause mit Fahrerwechsel verfranzt, einen großzügigen, unbeabsichtigten Schlenker durch das wunderschöne Tirol gemacht und waren nun hier gelandet. Im nebligen Nirgendwo. Aber egal. Alle Wege führen nach Rom. Respektive Kitzbühel.

      Karl-Heinz, den sie nur von hinten sahen, schien etwas zu sagen. Der Kopf mit der Baskenmütze wackelte jedenfalls.

      Manni war felsenfest davon überzeugt, dass die Frau in Rot ihrem Kumpel Karl-Heinz gleich den Kopf

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