Leichen, die auf Kühe starren. Tatjana Kruse
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Leichen, die auf Kühe starren - Tatjana Kruse страница 5
Die Jungs warfen sich verstohlene Blicke zu. Keiner traute sich, ihr ein beherztes „Doch!“ zuzurufen. Verdammt, sie waren einfach alle zu gut erzogen.
„Wunderbar!“, freute sich Frau Obermoser. „Sie sind die Besten! Und jetzt los. Auf nach Kitzbühel!“
Es gibt Momente im Leben, da muss man sich dem Schicksal geschlagen geben. Was war schon eine Nacht? Für das, was sie geplant hatten, blieb noch genug Zeit.
Beppi schob Manni vorsorglich einen Energieriegel in den Mund, damit er die Klappe hielt. Nicht-der-Hinterseer und Rudi schunkelten im Rhythmus von Hansi Hinterseers Ein kleines Edelweiß. Karl-Heinz zählte alle Anwesenden durch – er hatte einen Zählfimmel –, rückte seine Baskenmütze neckisch schief und ließ den Motor an.
Der Kleinbus machte einen Hops nach vorn, dann zuckelte er durch die Nacht.
Oben auf seinem Dach ruckelte der Schrankkoffer an den Halteseilen. Seine Ecken feuchtelten nicht länger, sie leckten.
Und zwar rot.
Blutrot …
Tag 1
Man soll den Tag nicht vor dem Kaffee loben
Leo war seit exakt fünf Stunden und fünfzig Minuten 30 Jahre alt, und so richtig prickelnd fand sie das nicht. Deswegen würde sie heute auch nicht feiern. Allenfalls ein Bier zu Feierabend.
Sie pustete sich eine Locke aus dem Gesicht und marschierte den Einsiedeleiweg zügig hangabwärts. Spät dran. Wie immer.
Eigentlich hieß sie ja Luisa, aber schon beim Rausploppen aus dem Mutterleib – deutlich vor dem errechneten Geburtstermin während einer Zugfahrt – hatte sich gezeigt, dass sie gern sternzeichengerecht ihren eigenen Kopf durchsetzte. Und das Abenteuer liebte. So wurde aus Luisa bei allen, die sie als die Löwin kannten, die sie war, kurz Leo.
30. Sie hatte immer gedacht, mit 30 würde sie wissen, was sie vom Leben wollte. Da sei man halbwegs gesettelt. Sie hatte immer geglaubt, nach drei Jahrzehnten müsse klar sein, wohin man gehöre. Gerade als Löwin sollte sie sich bis dahin ihr eigenes Territorium erobert haben – und gut.
Aber nichts war weiter von ihrer derzeitigen Realität entfernt. Sie hatte ihr Studium geschmissen (zweimal), war ein paar Jahre mehr oder weniger ziellos durch die Welt gebackpackt und jobbte nun befristet als Zimmermädchen. Wäre ihre Großmutter – die sie nur aus den wenigen Ferienwochen ihrer Schulzeit kannte, weil sich die Mama mit der Oma böse entzweit hatte und die Mama (alleinerziehend) daraufhin über die Grenze ausgewandert war – nicht vor Kurzem gestorben, hätte sie jetzt nicht einmal ein Dach über dem Kopf. So war sie vor Kurzem nach Kitzbühel gekommen. Um den Nachlass zu regeln. Um herauszufinden, wie es für sie weitergehen sollte. Aber so richtig angekommen war sie noch nicht. Und ob sie nun in Kitz jobbte wie jetzt, oder an der französischen Riviera wie letztes Jahr, oder in Kopenhagen wie vorvorletztes Jahr – irgendwie schien ihr das Leben ein einziger Tempel der Ödnis und Langeweile.
Wenn sie so darüber nachdachte, wurde sie doch einen Ticken nervös. Was sollte aus ihrem Leben werden? Das konnte doch nicht ewig so luschig in der Schwebe bleiben.
Leo hätte sich keine Sorgen machen müssen. In den nächsten 48 Stunden würde das Universum eingreifen und die Richtung vorgeben. Was sie natürlich nicht wusste. Momentan sputete sie sich einfach, um noch halbwegs im Rahmen zu spät zur Arbeit zu kommen.
Kurz darauf wienerte sie das Bad der Sisi-Suite.
Den Job im altehrwürdigen Marchwardushof, einem der allerersten und allerbesten Beherbergungsbetriebe von Kitzbühel und benannt nach Marchwardus, der um 1180 zum ersten Mal Chizbuhel mit Tinte auf eine Urkunde gänsefederte, hatte Leo nur temporär, jetzt in der Zwischensaison. Und auch nur, weil niemand Qualifizierteres zu haben war. Wer jetzt fragt, wie viel Qualifikation es erfordert, Hotelzimmer sauber zu machen, hat das noch nie getan.
Leo hatte sich gut, sogar sehr gut eingearbeitet. Sie machte die Zimmer, reinigte den Poolbereich und half, wenn Not an der Frau war, auch nachmittags im Cafébereich aus. Herr Neuveille, der Hoteldirektor, hatte sie schon beim Einstellungsgespräch gefragt, ob sie nicht den Winter über bleiben wolle. Aber ganz ehrlich, wenn zur Skisaison wieder über 100.000 Verrückte in den kleinen 8000-Seelen-Ort einfielen, dann wollte Leo eher nicht im Hotel arbeiten. Es war so schon stressig genug. Fast alle guten Geister des Hauses waren in Urlaub, und von den Verbliebenen waren zwei krank. Ergo gab es – obwohl das Haus nur zur Hälfte belegt war – Stress.
Die Zwischensaisongäste wussten zwar, dass Zwischensaison war, erwarteten aber dennoch den vollen Service. Und zwar pronto. Erst gestern hatte um Viertel vor zehn ein Gast an die Tür zum Spa-Bereich geklopft – ach was, gehämmert – und Eintritt verlangt, obwohl das Spa erst um zehn öffnete. Und ein anderer hatte sie zur Kaffeestunde angepflaumt, als sie die verschiedenen Kuchenvarianten nicht alle namentlich aufzählen konnte. Pech, aber sie waren ihr in den fünf Minuten, die ihr blieben, um sich vom Poolgirl in eine Aushilfsbuffetkellnerin zu verwandeln, nicht persönlich vorgestellt worden.
Nee, das Hotel- und Gaststättengewerbe war auf Dauer nichts für sie.
Wenn Leo ihr erstes Studium nicht abgebrochen hätte, würde sie jetzt Pubertierende in Sport und Englisch unterrichten. Das wäre aber weder für die Kids noch für sie ein Vergnügen gewesen. Leo war nicht wirklich kompatibel mit Menschen. Wer ihr dumm kam, wurde gerissen wie eine Antilope. Da kam die Löwin in Leo durch. Darum war es rückblickend gut, dass sie auch ihr zweites Studium an den Nagel gehängt hätte. Die Vorstellung, dass sie als Psychologin Menschen in seelischer Not half, war lachhaft.
Und danach hatte Leo sich treiben lassen. War ein Jahr durch die Welt gebackpackt, hatte sich auf Hawaii von einem Surfer das Herz brechen lassen – und beim Bergsteigen in Nepal den linken Unterarm. Solange sie nicht wusste, was sie wollte, würde sie im Haus ihrer Oma bleiben. Schon immer wohnte Leos Familie in diesem – mittlerweile ziemlich windschiefen – Fachwerkhaus, das sich an den Hahnenkamm schmiegte. Beste Lage. Hätte man schon längst für einen Millionenbetrag verkaufen können. Grundstückswert, nicht für das windschiefe Hexenhäuschen, in dem man jedweden modernen Komfort vergeblich suchte. Immerhin hatte die Oma Anfang der siebziger Jahre ein Badezimmer einbauen lassen.
Und so war Leo an diesem kühlen Herbstmorgen, an dem die Wolken so tief hingen, dass man das Gefühl hatte, sie beinahe anfassen zu können, zügig zum Marchwardushof geeilt, der punktgenau an der Stelle stand, wo die „Vorderstadt“ auf die „Hinterstadt“ traf, im mehr als 700 Jahre alten Herzen des Ortes, wo sie um nur zehn Minuten zu spät ihren Dienst angetreten hatte und nun die Sisi-Suite putzte.
Das Einzige, was ihr in diesem drögen Einerlei half, war ihre Neugier. Hier zum Beispiel lag – unter zwei ordentlich gefalteten Handtüchern, als ob man es nicht sehen sollte – eine Heimwerker-Bibel auf dem Wasserkasten der Toilette. Noch in Folie eingeschweißt und mit dem Preisaufkleber Bücherklause Haertel direkt um die Ecke. Die Folie war allerdings an einer Seite aufgeschlitzt und jemand hatte einen gelben Post-it-Zettel hineingeschoben. Auf dem auch etwas stand. Man konnte es nur nicht lesen, weil es falsch herum hineingesteckt worden war. Leo schob ihren Zeigefinger unter die Folie und …
„Was machen Sie denn da?“, brummte plötzlich eine Männerstimme. Sie brummte ungnädig. Der dazugehörige Kerl fixierte sie wie ein Krokodil, das gleich eine zarte Antilope mit einem einzigen Happs verschlingen wollte.
Leo ließ vor Schreck das Buch fallen. Leider fiel es in die Kloschüssel,