Das Medaillon. Gina Mayer
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»Wo ist Herr Rinstermann?«, fragte sie.
Er lächelte. »Er hat sich zur Ruhe gesetzt, die Apotheke verkauft und ist nach Düsseldorf gezogen zu seiner Nichte.«
So plötzlich, dachte sie. In der vergangenen Woche hatte er ihr noch eine Salbe verkauft und keinen Ton davon gesagt, dass er sein Geschäft aufgeben wollte. Aber er war immer schweigsam gewesen, der alte Apotheker.
»Und Sie sind sein Nachfolger«, fragte sie und hörte, wie ihre Stimme mit jedem Wort an Höhe verlor. Irgendwo, ganz tief in ihrem Inneren, stellte sie fest, hatte sich absurderweise ein Rest Hoffnung verborgen, dass sie selbst nach Rinstermanns Abgang die Apotheke übernehmen könnte. Ganz ohne Lehrjahre, ohne Universitätsstudium, ohne Wissen und Kenntnisse. Es war ein dummer, ein unsinniger Gedanke gewesen und sie schämte sich plötzlich dafür, obwohl niemand davon gewusst hatte, nicht einmal sie selbst.
»Minter«, sagte der Mann und sie sah ihn überrascht an, dann wurde ihr bewusst, dass er sich vorgestellt hatte.
»Und Sie?«, fragte er.
»Rosalie«, sagte sie. »Rosalie Kuhn.«
Der Name war ein Fluch. Ihre Mutter hatte ihn ausgesucht, vielleicht weil er sie an irgendjemanden, an irgendetwas erinnert hatte. Was immer es war, sie hatte es Rosalie nicht mehr mitteilen können. Sie war gestorben und hatte nicht miterlebt, wie ihre einzige Tochter heranwuchs und sich in ihrer Entwicklung immer weiter von ihrem Namen entfernte. Nun war sie neunzehn Jahre alt, muskulös gebaut und dunkelhaarig. Im Winter, wenn ihre Haut hell und durchscheinend war, zeichnete sich auf ihrer Oberlippe ein schwarzer Schatten ab wie die Vorahnung eines Bartes. Die Jungen in der Volksschule hatten sich schon damals darüber lustig gemacht, aber nur heimlich und hinter ihrem Rücken, denn Rosalie war stark, niemand legte sich gerne mit ihr an.
Nachdem sie ihren mädchenhaften Namen ausgesprochen hatte, musterte sie den neuen Apotheker voller Misstrauen, aber er schien den Widerspruch zwischen ihrer Erscheinung und ihrem Namen nicht zu bemerken.
»Was kann ich für Sie tun?«
Sie reichte ihm den Zettel mit den Verschreibungen, er las und nickte und verschwand dann im Nebenraum. »Dr. Kuhn, ist das Ihr Mann?«, fragte er, als er ihr die drei Fläschchen mit den Tinkturen über die Ladentheke reichte.
»Mein Vater«, entgegnete sie und lächelte. Im gleichen Moment begann einer im Stockwerk über der Apotheke zu hämmern, es klang laut und wütend, als ob jemand mit einem harten Gegenstand auf den Boden schlüge. Sie sah den Apotheker fragend an, aber er hatte den Blick zur Decke gerichtet und wirkte mit einem Mal voller Sorge, vielleicht hatte er Angst, dass sie einstürzte.
»Nun denn, wir werden uns künftig noch des Öfteren begegnen.«
Er richtete die Augen wieder auf sie, lächelte verwirrt und kam hinter der Theke hervor und trat vor ihr zur Tür, um sie für sie zu öffnen.
»Der alte Rinstermann hat also verkauft«, sagte ihr Vater und nickte langsam, während er einen Löffel gestampfte Kartoffeln im Mund versenkte. »Ja richtig, er hat davon gesprochen, es war wohl auch an der Zeit, lange wäre es sicher nicht mehr gut gegangen mit ihm. Und der Neue, sein Nachfolger, wie ist er?«
»Er wirkt recht angenehm.« Rosalie versuchte sich an den Namen des jungen Apothekers zu erinnern. Minster. Mindner. Oder so ähnlich.
»Nun, er wird mir sicherlich seine Aufwartung machen in den nächsten Tagen.« Ihr Vater schenkte sich ein Glas Bier ein, nahm einen kräftigen Schluck und wischte sich dann mit dem Handrücken den Schaum von der Oberlippe, der sich wie ein weißer Flaum auf seinen dunklen Bart gelegt hatte.
»Heute Abend erwarte ich übrigens Fuhlrott. Er war vorhin in der Praxis und hat seinen Besuch angekündigt.«
Dr. Fuhlrott wohnte nur ein paar Häuser weiter auf der Laurentiusstraße und unterrichtete Naturkunde an der Höheren Bürger- und Realschule in Elberfeld. Auch ihm war vor drei Jahren die Frau gestorben, aber ihn hatte es noch schlimmer getroffen als Kuhn, statt nur mit einer war er mit sechs Töchtern zurückgeblieben, von denen die jüngste heute gerade einmal acht Jahre alt war. Vielleicht lag es an dieser Unmenge an eigenen Töchtern, dass er Rosalie, die im gleichen Alter war wie seine Zweitälteste, immer nur mit höflichem Desinteresse behandelte. Als wäre sie Luft.
Die beiden Doktoren – wie sie die Nachbarn nannten – waren schon viele Jahre befreundet, sie teilten das Interesse an den Naturwissenschaften, an der Zoologie, der Geologie und der Botanik, das Interesse an allem, was erforschbar war und logisch. Sie trafen sich ein oder zwei Mal die Woche und Rosalie, die stets dabeisaß, wenn sie zusammenkamen und miteinander redeten, sog die Dinge, über die sie diskutierten, in sich auf. Fuhlrott, der mit den Steinbruchbesitzern der ganzen Umgebung bekannt war, wurde von ihnen mit Knochen versorgt, die beim Abbau zu Tage kamen, viele davon waren nur wenige Jahre alt und wertlos, andere wiederum bezeichnete der Doktor als ‚fossil‘ und ihr Zustand und ihre Beschaffenheit ermöglichten Rückschlüsse auf das Aussehen, das Wesen der Arten in vorsintflutlichen Zeiten. Rosalie malte sich immer aus, wie die Erde vor der Sintflut ausgesehen haben mochte, mit Eis bedeckt und von fremdartigen Lebewesen bevölkert. Es fiel ihr schwer, diese Vorstellung mit Noahs Arche in Verbindung zu bringen, denn wie hätten all die eigentümlichen Tiere, die Nashörner und Hyänen und Auerochsen, auf ein einziges Schiff passen sollen – und sei es auch noch so groß. »Meiner Ansicht nach hat die Sintflut in ihrem alttestamentarisch beschriebenen Ablauf nie stattgefunden«, sagte ihr Vater, als sie ihn danach fragte. »Es ist ein Sinnbild, eine Parabel, keine wissenschaftliche Beschreibung.« So etwas sagte er jedoch nur zu ihr und selbst dann senkte er die Stimme, so dass sie genau hinhören musste. Mit seinem Freund Fuhlrott sprach er niemals über solche theologischen Dinge, sie hielten sich an naturwissenschaftliche Fakten.
Um sieben läutete es an der Haustür. Rosalie öffnete und erwartete Fuhlrott, es war aber nicht der Lehrer, sondern der neue Apotheker. An seinen Namen konnte sich Rosalie nicht mehr erinnern, aber er schien sie ebenfalls vergessen zu haben, jedenfalls stellte er sich erneut vor.
»Minter«, sagte er mit einem Diener. »Ich hoffe, ich störe nicht.«
»Keineswegs«, sagte Rosalie.
»Ich wollte mich Ihrem Herrn Vater gerne einmal vorstellen, so er zu Hause wäre.« Der Apotheker blinzelte nervös über ihre Schulter ins Dunkel des Hausflurs.
»Nein, nein. Kommen Sie ruhig herein, mein Vater hat Sie ja schon erwartet.«
Sie führte ihn durch den Flur und die Treppe hinauf bis ins Kaminzimmer, das groß und düster neben der Küche lag. Ihr Vater saß in seinem Lehnstuhl und kehrte ihnen den Rücken zu. »Fuhlrott, alter Knabe!«, rief er, ohne von seinem Buch aufzusehen. »Gibt es Neuigkeiten aus der Urzeit?«
»Es ist Herr Minter«, sagte Rosalie schnell. »Von der Apotheke.«
Ihr Vater blickte auf, das Lächeln, das Fuhlrott gegolten hatte, verschwand aus seinem Gesicht, aber als er die verlegene Miene des Besuchers sah, erhob er sich und kam ihm entgegen. Dann klingelte es wieder und Rosalie ging, um die Tür zu öffnen, und dieses Mal war es wirklich Fuhlrott.
Er kümmerte sich gar nicht um den fremden Gast, sondern nahm gleich in seinem gewohnten Sessel am Fenster Platz, griff nach dem Bierkrug, den Rosalie schon für ihn hingestellt hatte, und nahm einen großen, durstigen Schluck. Dann stellte ihm Dr. Kuhn den Apotheker vor, der die Gelegenheit nutzen wollte, um sich zu verabschieden.
»Nicht