Das Medaillon. Gina Mayer

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Das Medaillon - Gina Mayer

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rührte in dem Kaffee, den Friedel ihm hingestellt hatte, und sah mit leuchtenden Augen an Rosalie vorbei. Rosalie dachte daran, dass Galileo Galilei auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden wäre, wenn er seiner Überzeugung nicht abgeschworen hätte, und fröstelte plötzlich, obwohl es ein warmer Sommermorgen war.

      Sie erzählte Dorothea von den Knochenfunden, als sie am Nachmittag zusammen Brombeeren pflückten.

      »Ein Urmensch«, sagte Dorothea ungläubig.

      »Ja, und nach der Beschaffenheit des Schädels zu urteilen, muss er recht wunderlich ausgesehen haben«, sagte Rosalie. »Der Kopf war viel flacher als der unsrige und über den Augenbrauen hatte er vorstehende Knochenwülste wie die Affen und auch die Glieder waren plumper und schwerfälliger. Es war eine primitive Vorstufe zu unserer heutigen Art.«

      »Aber Gott hat den Menschen nach seinem Bilde geschaffen am sechsten Tag«, meinte Dorothea. »In der Bibel steht nichts davon, dass er ihn nach der Erschaffung noch weiter verbessert hat.«

      Rosalie schwieg betreten. Natürlich, trotz der unzähligen Bücher, die Dorothea verschlang, war sie doch ganz im bibeltreuen Glauben ihrer Eltern verhaftet und eine wissenschaftliche Denkweise war ihr fremd. Es war dumm gewesen, ihr von den Gebeinen zu erzählen. Ihrem Vater und Fuhlrott jedenfalls würde es nicht gefallen, wenn die Nachricht von spektakulären Funden aus der Urzeit die Runde machte, noch bevor sie die Knochen richtig untersucht hatten. Ihr Ruf war ohnehin nicht der beste. Kuhn galt als verschroben und freidenkerisch und Fuhlrott war Katholik und gehörte einer Freimaurerloge an, weshalb man ihn auch nicht zum Direktor seiner Schule gemacht hatte, sondern nur zum Stellvertreter. Und Rosalie war sich ganz sicher, dass Pastor Sommer damals Fuhlrott gemeint hatte, als er in einer Predigt gegen jene Ketzer gewettert hatte, die die heilige Ordnung der Schrift leugneten und die Wissenschaft höher als den einzig wahren Glauben stellten.

      Sie blickte etwas unbehaglich zu Dorothea hinüber, aber diese begegnete ihrem Blick nicht, sie hielt die Augen auf ihren Korb gesenkt, dessen Boden mit Beeren bedeckt war. »Vielleicht war es ja gar kein Urmensch, sondern etwas ganz anderes. Ein großes Tier oder ein Riese ...«, meinte Rosalie zögernd.

      Dorothea antwortete nicht und blickte auch nicht auf.

      Schweigend pflückten sie weiter und Rosalie streckte ihre Finger nach ein paar prallen Beeren, aber sie erreichte sie nicht. Als sie den Arm zurückzog, riss sie ihn an einer Dornenranke auf, vom Handgelenk bis zum Ellenbogen erschien ein langer Kratzer auf der Haut, zuerst weiß, dann füllte er sich mit Blut.

      »Was ist eigentlich aus der Sache mit Kirschbaum geworden?«, fragte sie, um das Gespräch auf ein unverfängliches Thema zu bringen. »War er gekränkt über deine Absage?«

      Dorothea ließ ein paar Beeren von der rechten Hand in die linke gleiten, die sie wie eine Schale hielt, und betrachtete nachdenklich die Früchte, als habe sie vergessen, was sie damit anfangen wollte. »Ich habe nicht abgelehnt«, sagte sie schließlich leise.

      »Ich verstehe nicht.« Rosalie suchte wieder Dorotheas Blick und dieses Mal hob Dorothea den Kopf und sah sie an. Im grellen Sommerlicht hatten ihre Augen einen schwarzen, harten Glanz, wie die Beeren in ihrer Hand. »Ich habe ihm zugesagt«, sagte sie. »Ab Montag werde ich für ihn arbeiten.«

      2. Kapitel

      »Nach Untersuchung dieses Gerippes, namentlich des Schädels, gehörte das menschliche Wesen zu dem Geschlecht der Flachköpfe, deren noch heute im amerikanischen Westen wohnen, von denen man in den letzten Jahren noch mehrere Schädel an der obern Donau bei Sigmaringen gefunden hat. Vielleicht trägt dieser Fund zur Erörterung der Frage bei: ob diese Gerippe einem mitteleuropäischen Urvolke oder bloß einer (mit Attila?) streifenden Horde angehört haben.«

      (aus einem Artikel im »Barmer Bürgerblatt« vom 9. September 1856)

      Dorothea pflückte ein paar Brombeeren vom Strauch und hielt sie in der Hand. Plötzlich verspürte sie das fast unwiderstehliche Bedürfnis, ihre Finger zusammenzupressen und die glänzenden Beeren zu zerquetschen. Aber dann ließ sie die Früchte zu den anderen Beeren in den Korb fallen.

      Sie dachte darüber nach, was Rosalie soeben zu ihr gesagt hatte. Dass dieser Fuhlrott auf die Knochen eines Urmenschen gestoßen sei.

      Die Knochen eines Urmenschen. Das war ja noch schlimmer als damals die Sache mit den Steinen, die Fuhlrott in der Eifel gefunden hatte und die angeblich mehrere hunderttausend Jahre alt waren. Rosalie hatte Dorothea davon berichtet und Dorothea hatte wiederum ihrer Familie beim Abendbrot davon erzählt. Ihr Vater war außer sich geraten. »Dieser Ketzer, dieser römische Ketzer!«, hatte er getobt, obwohl sie den Namen Fuhlrott gar nicht erwähnt hatte. Dorothea hatte die Augen auf ihren Teller gesenkt und geschwiegen und sich selbst verwünscht, dass sie den Mund nicht hatte halten können.

      Abends war ihr Vater dann zu ihr in die Kammer getreten, mit der Bibel in der Hand, sie hatte gerade noch Zeit gehabt, ihr Buch unter dem Kopfkissen verschwinden zu lassen. Sie setzte sich aufs Bett und er setzte sich ihr gegenüber auf den Stuhl, dann schlug er die Schrift auf, das Buch Genesis, und las ihr das Geschlechtsregister von Adam bis Noah und von Sem bis Abraham vor und dann das Geschlechtsregister Esaus und die Könige und Stammesfürsten der Edomiter und schließlich noch einige andere Abschnitte und als ihr schon der Kopf schwirrte von den vielen Namen und Altersangaben und sie sich fragte, ob ihr Vater auf diese Weise das ganze Alte Testament durchgehen wollte, ließ er das Buch sinken und sah sie an.

      »Verstehst du?«, fragte er. Sie verstand überhaupt nichts, aber das wollte sie ihm nicht sagen, weil sie befürchtete, dass er dann aufs Neue mit seinem Vortrag beginnen würde. Also nickte sie nur und senkte den Blick.

      »Wer Ohren hat zu hören, der höre«, sagte ihr Vater. »Und wer rechnen kann, der rechne. Nach der Heiligen Schrift ist unsere Erde etliche tausend Jahre alt, aber nicht älter, und jeder, der etwas anderes behauptet, stellt sein Wort gegen das des Herrn.« Dann hatte er mit ihr gebetet, und seitdem hatten sie nicht mehr über den Vorfall gesprochen.

      So hatte ihr Vater reagiert, als sie nur von altertümlichen Steinen erzählt hatte, und jetzt fing Rosalie sogar von den Skelettresten eines grobschlächtigen Urzeitmenschen an, die dieser verrückte Lehrer gefunden haben wollte. Doch damit wollte Dorothea nichts zu tun haben.

      »Aber Gott hat den Menschen nach seinem Bilde geschaffen am sechsten Tag«, sagte sie laut und bestimmt. »In der Bibel steht nichts davon, dass er ihn nach der Erschaffung noch weiter verbessert hat.«

      Rosalie pflückte schweigend weiter und Dorothea fragte sich, ob sie die Freundin gekränkt hatte. Rosalie wuchs in einer so ungezwungenen Umgebung auf, ihr Vater ließ sie tun und machen, was sie wollte, so lange sie ihm nur einigermaßen den Haushalt in Ordnung hielt. Schon in der Volksschule hatte ihr ihre freie Art eine Menge Probleme bereitet, dieses Nachfragen und Nachhaken um jeden Preis. Dieses Verlangen, Zusammenhänge zu verstehen, die nicht zu verstehen waren.

      Jetzt hätte Dorothea gerne etwas Versöhnliches gesagt, irgendetwas Belangloses, Freundliches, aber ihr fiel nichts ein. Und dann fing Rosalie auch noch von Kirschbaum an. Warum hatte sie ihr nur davon erzählt? Dass sie ihre Eltern hinterging, war schlimm genug. Aber sie hätte die Angelegenheit wenigstens für sich behalten müssen, statt mit Rosalie zu reden, die die Bedeutung dieser Sache ohnehin nie verstehen würde.

      Am Montag begann sie ihre Arbeit für Isaak Kirschbaum. Sie betrat den kleinen Laden auf der Alten Freiheit, wie sie ihn unzählige Male zuvor schon betreten hatte: Sie schaute hastig über ihre Schulter, ob sie vielleicht jemand beobachtete, den sie kannte, dann zog sie das Kopftuch tiefer ins Gesicht und ging mit schnellen, kleinen Schritten über

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