Das Medaillon. Gina Mayer
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Rosalie zögerte einen Augenblick, sie drehte die Flasche in ihrer Hand hin und her, dann verzog sie verächtlich ihren großen Mund. »Sicher bin ich dabei, wo sollte ich auch sonst hin.«
Zum Abendbrot gab es Kartoffeln mit saurer Milch und die ganze Familie saß an dem langen Tisch in der Küche, die Eltern und Dorothea und ihre jüngeren Brüder Traugott, Tobias, Matthis und der kleine Hermann. Hermann zerdrückte seine Kartoffel zu einem klumpigen Brei und zog dann mit der Gabel Furchen, so dass die dicke Milch durch die Rinnen floss. Dorothea beugte sich so weit es ging über ihren Teller, damit der Vater vom Tischende aus nicht sehen konnte, dass Hermann spielte anstatt zu essen.
»Die Männer werden morgen Abend gleich nach der Arbeit hier eintreffen und hungrig sein«, sagte Frau Leder. »Es ist vielleicht nicht genug, wenn wir ihnen nur Brot und Griebenschmalz anbieten. Ich werde in der Frühe noch eine Kohlsuppe kochen, das ist sicherlich besser.« Der Satz war keine Frage, dennoch hob sie die Stimme am Ende und sah ihren Mann an, der seine Fingernägel betrachtete.
»Die Gemeinde kommt aber nicht zum Essen, sondern zum Gebet«, meinte er, ohne ihren Blick zu erwidern. »Hungrig soll gewiss keiner gehen, aber Brot und Schmalz stillen den Hunger genauso gut wie Wasser den Durst.« Jetzt blickte er auf und sah so missbilligend aus, als habe sie vorgeschlagen, Bier oder Wein zu reichen.
Frau Leder nickte, dabei legte sie Hermann noch eine Kartoffel auf den Teller und zerstörte so seinen kunstvoll errichteten Dammsee. Dorothea blickte auf das Bild über dem Esstisch, das Jesus zeigte, wie er auf dem See Genezareth über das Wasser wandelte. Sein dunkles Haar fiel in sanften Wellen auf sein weißes Gewand, die warmen, braunen Augen blickten versonnen in die Ferne und plötzlich wusste Dorothea, an wen dieser Apotheker, dieser Minter, sie vorhin erinnert hatte. Mit seinen langen Haaren sah er aus wie Jesus.
Rosalie war so schroff und abweisend zu ihm gewesen, als er sie auf das Treffen in ihrem Haus angesprochen hatte. Ob sie ihn nicht mochte?
Morgen würden sie hier ihre Andacht halten und zur gleichen Zeit würden die beiden Doktoren, dieser Apotheker und Rosalie sich genauso andächtig über diese Knochen beugen und darüber spekulieren, welchem altertümlichen Wesen sie gehört hatten. Und waren sich nicht einmal bewusst, dass sie Gottes heiliges Wort in Frage stellten, dachte Dorothea und fragte sich, ob das die Sache besser machte oder schlimmer.
»Dorothea?« Die Stimme ihres Vaters riss sie aus den Gedanken.
»Ja?«
»Hast du nicht zugehört? Ich sprach von Tante Lioba.«
»Von Tante Lioba?« Ihr Herz setzte einen Schlag aus und begann dann zu rasen.
»Ob du sie morgen mitbringen kannst, zur Andacht.«
»Ich weiß nicht«, meinte Dorothea. »Sie ist ja so verwirrt. Ich weiß wirklich nicht.« Sie schwieg, während sie verzweifelt versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Warum wollte ihr Vater Tante Lioba dabeihaben? Auch früher, als sie noch bei Verstand gewesen war, war sie niemals zu ihren Andachten gekommen. Sie war auch kein Glied der Niederländisch-reformierten Gemeinde. Ahnte er etwas? Wollte er Dorothea am Ende gar auf die Probe stellen? Wie sollte sie sich verhalten?
Er betrachtete wieder seine Hände. »Gut.« Er nickte langsam. »Es werden so viele Leute kommen, auch die Ältesten, und wenn sie unruhig wird und laut, dann kann sich keiner sammeln.«
Dorothea nickte ebenfalls. Ihr Herz schlug jetzt wieder langsamer, weil die Gefahr vorüber war, aber sie fühlte sich schuldig, obwohl sie nichts anderes gesagt hatte als die Wahrheit. Tante Lioba würde ganz ohne Zweifel alles durcheinanderbringen. Aber das war nicht der Grund, warum sie sie nicht dabeihaben wollte. Sie hatte Angst, dass sie sie verraten würde. Und dass dann alle erfuhren, dass Dorothea das vierte Gebot brach und auch das achte, Tag für Tag aufs Neue.
Sie musste damit aufhören, sie musste dieses Doppelleben aufgeben. Aber dann dachte sie wieder an das Halbdunkel in der Bibliothek, an den Geruch von altem Papier und die Stapel neuer Bücher, die auf ihrem Schreibtisch im Hinterzimmer auf sie warteten, und sie spürte ein warmes, fast wollüstiges Gefühl in ihrem Leib und wusste, dass es immer so weitergehen würde, bis es nicht mehr weiterging.
Als sie an den Regalen von A bis Kr vorbei war und ihr kleines Büro fast erreicht hatte, hörte sie die Stimmen. Herrn Kirschbaums Stimme und eine Frauenstimme, die dünn und jämmerlich klang. Sie kamen aus den hinteren Räumen, in denen Kirschbaum lebte, und weil er noch niemals Besuch gehabt hatte, seit sie für ihn arbeitete, hielt sie inne und lauschte. »Ich bitte darum, nur dieses einzige Mal, es ist doch gewiss nicht zu viel verlangt ...«, klagte die Frauenstimme.
Dorothea schüttelte den Kopf über ihre Neugierde und wollte die Tür hinter sich schließen, aber jetzt kam die Frau aus Kirschbaums Wohnung. Sie war viel älter als Dorothea, eine kräftige Person mit hoch aufgetürmtem schwarzen Haar, die ein Taschentuch vor den Mund presste. Ihre runden Schultern hoben und senkten sich in raschem Wechsel. Sie weinte und als sie fast an der Tür vorbei war, wandte sie plötzlich den Kopf und starrte Dorothea an. Ihre schwarzen Augen lagen tief in runzeligen, rot verweinten Höhlen, aber aus diesen Tiefen heraus brannten sie so verächtlich, so hasserfüllt, dass Dorothea die Tür abrupt ins Schloss zog und mit zitternden Beinen an ihrem Tisch Platz nahm.
Was war das für eine Frau? Weshalb war sie so außer sich? Was für ein Geheimnis verbarg Kirschbaum, dieser ruhige, unscheinbare Mann?
Eine Affäre. Die Frau liebte ihn, und er hatte sie abgewiesen. Dorothea runzelte die Stirn. Was für ein Unsinn.
Die Frau war eine Leserin, die ein Buch ausgeliehen und verloren hatte und nun nicht dafür aufkommen wollte. Nein, dachte sie, die Frau hatte nicht verlegen ausgesehen oder ungehalten, sondern richtiggehend verzweifelt.
Sie schob die Gedanken von sich und zog stattdessen eines der Bücher von dem Stapel, der sich links auf ihrem Tisch auftürmte, der Stapel mit den Rückgaben. Sie musste die dazugehörige Karte aus dem Karteikasten holen und das Buch zurückschreiben und dann an seinen Platz ins Regal bringen, in diesem Fall war es das Regal von S bis Sh, denn es handelte sich um William Shakespeares dramatische Werke, übersetzt von August Wilhelm Schlegel und Ludwig Tieck.
Sie suchte die Karteikarte im Kasten und setzte einen winzigen Haken hinter den Namen des letzten Lesers, der das Werk entliehen hatte, legte die Karte vorne zwischen den Einband und die Titelseite und dann ließ sie das Buch fallen. Sie ließ es nicht absichtlich fallen, es glitt ihr einfach aus den Händen und blieb aufgeschlagen auf dem Boden liegen, mit dem Rücken nach oben wie ein toter Vogel.
Sie hob es schnell wieder auf, pustete den Staub vom Einband und wollte es eben weglegen, als ihr Blick auf die Stelle fiel, an der sich das Buch geöffnet hatte. Es war eine Stelle aus dem Kaufmann von Venedig, und ohne darüber nachzudenken, warum sie es tat, las sie den Satz, den der Daumen ihrer linken Hand unterstrich.
»Shylock:« las sie. »Gewinn ist Segen, wenn man ihn nicht stiehlt.« Und im selben Moment verstand sie und erschrak.
Sie hatte das Stück vor Jahren gelesen und erinnerte sich nicht an alles, aber sie wusste, dass es um zwei Freunde ging, von denen der eine Geld brauchte und der andere borgte es für ihn bei dem reichen Juden Shylock. Und dieser Shylock machte es zur Bedingung, dass er sich ein Pfund Fleisch aus dem Leib des Christenmenschen herausschneiden dürfe, so die Schuld nicht rechtzeitig zurückgezahlt werden würde. Ein Pfund Fleisch nahe beim Herzen. Das war kein Zufall. Das war ein Zeichen. Dieses Buch. Dieses Stück. Und ausgerechnet dieser Spruch. Gewinn ist Segen, wenn man ihn nicht stiehlt. Und dann die weinende Frau mit den schwarzen Haaren. Und Kirschbaum,