Das Medaillon. Gina Mayer
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Drinnen atmete sie aus und dann tief ein. Wie sie ihn liebte, diesen staubigen, muffigen Geruch nach Papier und die hohen, schmalen Regale, die sich deckenhoch und dicht an dicht drängten. Voller Bücher.
»Wünsche einen guten Morgen«, hörte sie eine vertraute Stimme irgendwo hinter den Regalen, auch das war wie immer.
»Guten Morgen«, gab sie zurück und zog dabei ihr Kopftuch vom Haar und den Mantel aus und das war neu.
Herr Kirschbaum kam zwischen zwei Regalreihen hervor und gab ihr die Hand. Jedes Mal, wenn sie ihn sah, war sie überrascht darüber, wie klein er war, nur ein wenig größer als sie selbst. »Ich freue mich sehr«, sagte er förmlich. »Hätte nicht gedacht ...«, dann brach er ab, drehte sich um und ging vor ihr her zu dem Schreibtisch, der auf einer kleinen Empore inmitten der Regale stand.
»Hier, das wäre ... das ist Ihr Platz«, begann er. Ihr Blick wanderte zum Fenster, vom Schreibtisch aus konnte man auf die Straße sehen und von der Straße auf den Schreibtisch. Jeder, der vorbeiging, würde sie sehen können, wie sie an diesem Schreibtisch saß und arbeitete.
»Oder, wenn Sie wünschen, dort, im Hinterzimmer«, sagte Kirschbaum, der ihrem Blick gefolgt war.
Den ganzen Vormittag saß sie dort, umgeben von hohen Bücherstapeln, Büchern, die von den Lesern wieder zurückgebracht worden waren und deren Titel sie nun in der Ausleihkartei suchte. Wenn sie die betreffende Karte gefunden hatte, dann strich sie den untersten Namen auf der Liste durch und sortierte die Karte in alphabetischer Ordnung zurück in die Kartei. Und am Ende nahm sie die Bücher und stellte jeden Band zurück an seine Stelle im Regal.
Neben dem Tisch lag ein hoher Stapel mit neuen Büchern, druckfrisch von Verlagen, die sie für den Verleih vorzubereiten hatte, und während sie die Seiten aufschnitt, las sie hier einen Absatz und dort ein Wort, und immer wieder begann ihr Herz schnell und aufgeregt zu schlagen, so sehr freute sie sich, dass sie hier war. Und so sehr schämte sie sich.
Ihre Eltern dachten, dass sie sich um Tante Lioba kümmerte, die oben in der Nordstadt in einem kleinen Häuschen ganz alleine wohnte, aber die man nicht mehr allein lassen konnte, seit sie geworden war wie ein kleines Kind. Aber statt Dorothea ging die alte Walpurga zur Tante und Dorothea gab ihr dafür fast das ganze Geld, das sie bei Kirschbaum verdiente. Einen kleinen Teil gab sie ihr dafür, dass sie auf die Tante aufpasste und für sie kochte und ihr das Haus in Ordnung hielt, und einen größeren Teil gab sie ihr, damit sie den Mund hielt und niemandem davon erzählte.
Um zwölf Uhr ging Kirschbaum in seine kleine Wohnung hinter der Bibliothek und kurze Zeit später zog ein wunderbarer Geruch durch die halb offene Tür in den Raum, in dem Dorothea saß und arbeitete, und sie merkte, dass sie hungrig war. Sie fragte sich, ob es nun an der Zeit war, die Brote herauszuholen, die sie von zu Hause mitgebracht hatte, aber während sie noch darüber nachdachte, hörte sie ein Geräusch. Als sie aufblickte, sah sie Kirschbaum auf der Türschwelle stehen, klein und rundlich und ernst. Seine dunklen Augen unter den dichten Brauen wirkten irgendwie überrascht, als wunderte er sich, sie hier zu sehen.
»Also«, sagte er nach ein paar Sekunden leise. »Das Essen ist fertig.«
Dann drehte er sich um und ging. Sie folgte ihm in eine kleine, dunkle Küche, deren schmales Fenster unter der Decke lag, so dass man nicht hinaussehen konnte. Auf einem winzigen Tisch standen zwei Teller mit Suppe und davor warteten zwei Stühle, er hatte tatsächlich für sie gekocht. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, er sagte auch nichts und setzte sich schweigend hin, also nahm sie auf dem anderen Stuhl Platz. »Einen guten Appetit wünsche ich.« Er nahm den Löffel und begann zu essen.
»Danke«, sagte sie und dann senkte sie die Augen und faltete die Hände unter dem Tisch und sprach lautlos den Segen, weil sie es so gewohnt war. Als sie die Augen wieder aufschlug und ihn ansah, nickte er ihr zu und lächelte, und sie lächelte zurück.
Nach einigen Tagen hörte sie auf, sich morgens heimlich Brote zu machen, denn Kirschbaum kochte jeden Mittag für sie. Dabei hatte er eine Dienstmagd, die ihm den Haushalt machte, die für ihn putzte und wusch, aber das Kochen überließ er ihr nicht. Vielleicht beherrschte sie die komplizierten Regeln nicht, nach denen die Juden ihre Speisen zubereiteten, dachte Dorothea.
»Warum sprechen Sie Ihr Gebet nicht laut?«, fragte er am dritten Tag, nachdem sie vor dem Essen wieder still gebetet hatte. »Es stört mich nicht, im Gegenteil sogar.«
»Nein«, wehrte sie rasch ab. »Es ist nur meine Gewohnheit zu beten.«
»Ich weiß.« Er lächelte. »Nun, ich habe diese Gewohnheit leider verloren, deshalb würde ich mich freuen, wenn Sie es für mich tun.«
»Aber ich bete doch zu einem anderen Gott«, sagte sie zögernd.
»Ich dachte immer, es gibt nur einen einzigen.«
»Natürlich«, meinte sie schnell und warf ihm von der Seite einen unsicheren Blick zu, um herauszufinden, ob er sich über sie lustig machte. Seine runden Augen waren ruhig und ernst. Ein bisschen traurig wie immer.
Abends nach der Arbeit ging sie immer in die Nordstadt, um bei Tante Lioba nach dem Rechten zu sehen. Der Weg dauerte eine Viertelstunde, sie ging so schnell sie konnte, mit gesenktem Kopf und mit niedergeschlagenen Augen, und hoffte, dass sie keiner sah und ansprach. Aber heute war die Hoffnung vergeblich.
»Wohin rennst du denn?«, fragte eine laute Stimme. Rosalie stand vor der Apotheke am Heckweiher, an einen Laternenpfahl gelehnt, als habe sie auf Dorothea gewartet.
»Ich muss zu Tantchen«, sagte Dorothea.
»Kommst du mit mir in die Apotheke?«, fragte Rosalie. »Ich muss meinem Vater ein paar Dinge besorgen. Hinterher begleite ich dich in die Nordstadt.«
Sie betraten zusammen den dunklen Ladenraum, Rosalie ging mit schwungvollen Schritten auf den jungen Mann hinter der Theke zu und streckte ihm einem Zettel entgegen. »Das ist Fräulein Leder«, stellte sie Dorothea vor.
Der Apotheker reichte Dorothea seine Hand über die Ladentheke. »Minter mein Name. Angenehm.«
Er war groß, sehr groß, Dorothea musste ihren Kopf in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht zu blicken. Ein schöner Mann, aber irgendetwas an ihm flößte ihr ein Unbehagen ein. Sie hatte auch das Gefühl, dass sie ihn von irgendwoher kannte, dass sie ihn schon gesehen hatte, nicht nur einmal, sondern oft, aber in einem ganz anderen Zusammenhang. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie etwas entgegnen musste. »Angenehm«, stotterte sie.
Die dunklen Augen musterten sie amüsiert. Dann wandte Minter sich Rosalie zu. »Ich habe die Tropfen schon vorbereitet, es dauert nur einen kleinen Moment.« Er ging in den Nebenraum und Dorothea und Rosalie warteten. Während sie auf die Regale starrten, hörten sie plötzlich über sich ein lautes Poltern und dann ein Dröhnen, wie von einem Erdbeben. Dorothea sah Rosalie fragend an, aber diese zuckte nur mit den Schultern. Schließlich kam Minter aus dem Nebenzimmer zurück und reichte Rosalie eine bräunliche Glasflasche.
»Vater sagt, ich soll Sie für den morgigen Abend einladen«, sagte Rosalie. »Dr. Fuhlrott wird auch zugegen sein.«
»Gibt es neue Erkenntnisse bezüglich der Gebeine?«, fragte der Apotheker.
Dorothea senkte den Blick zu Boden, als hätte er etwas Unzüchtiges gesagt. Diese elenden Knochen.
Rosalie