Das Medaillon. Gina Mayer
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»Tante Lioba«, schluchzte Dorothea. »Vergib mir, dass ich dich so benutze, aber ich will nun einmal bei Kirschbaum arbeiten und weiß mir sonst keinen anderen Rat. Und vergib mir, dass ich dich nicht mit zur Bibelandacht nehme.«
Tante Lioba hielt Dorotheas Hand in ihrem Schoß fest und streichelte sie mit Daumen und Zeigefinger, während sich ihr Blick wieder nach draußen auf die Straße richtete, und Dorothea fragte sich, ob sie etwas von dem verstanden hatte, was sie gesagt hatte, oder kein Wort davon oder alles.
Seit sie ihr Doppelleben begonnen hatte, traf sie sich morgens nicht mehr mit Rosalie an der Pumpe am Königsplatz, das Wasserholen erledigte jetzt Tobias vor der Schule. Aber heute war Tobias krank und deshalb hastete Dorothea vor der Arbeit mit den Eimern los. Sie war früher unterwegs als sonst, auf dem Platz begannen die Marktfrauen gerade ihre Waren auszubreiten, spannten Schirme auf und wuchteten Holzfässer und Kisten darunter und stapelten Obst, Gemüse und Kartoffeln zu spitzen Pyramiden. Während Dorothea ihre vollen Gefäße im Ziehwagen verstaute, hielt sie nach Rosalie Ausschau, und gerade als sie gehen wollte, bog ihre Freundin um die Ecke.
»Hast du deine Arbeit aufgegeben?«, fragte Rosalie sofort, als sie Dorothea sah.
Dorothea schüttelte den Kopf. »Ich gehe heute etwas später hin.« Rosalie nickte und Dorothea fragte sich wie so oft, ob sie ihr Doppelleben missbilligte oder ob sie sie verstand.
»Wie war eure Andacht gestern Abend?«, erkundigte sich Rosalie und schob dabei ihren Eimer unter die Pumpe.
Dorothea nickte kurz und murmelte etwas Unverbindliches. Als ihre Familie vor einigen Jahren die Reformierte Kirche verlassen hatte und der Niederländisch-reformierten Gemeinde beigetreten war, waren Rosalie und ihr Vater in der ursprünglichen Gemeinde verblieben. Wie viele andere Elberfelder betrachtete Dr. Kuhn Pastor Kohlbrügge mit Skepsis, er hielt seinen leidenschaftlichen Einsatz für die reine protestantische Lehre für übertrieben. »Religion in Maßen, das wollen diese«, pflegte Dorotheas Vater voller Verachtung über Leute wie Kuhn zu sagen. »Aber das gibt es genauso wenig wie Seligkeit in Maßen. Ganz oder gar nicht, das ist die Losung.«
Zu den Abendandachten, die reihum bei den Gliedern der Gemeinde abgehalten wurden, kamen die Familien, die in der Nähe wohnten. Manchmal erschienen zwanzig, mitunter auch nur zehn Leute. Gestern Abend bei den Leders waren jedoch viele, sehr viele Menschen erschienen, dicht an dicht hatten sie sich in der kleinen Stube und in der Küche zusammengedrängt. Die Stapel von Schmalzbroten, die Frau Leder und Dorothea vorbereitet hatten, waren nach der Andacht innerhalb von Sekunden verschwunden, als habe sie ein großer, hungriger Mund auf einmal eingeatmet.
Von den drei Ältesten waren zwei gekommen – Daniel von der Heydt und Friedrich Thiel – und von den Diakonen August Wolf. Nur Pastor Kohlbrügge selbst war nicht dagewesen.
»Es geht ihm nicht gut«, hatte Daniel von der Heydt Herrn Leder erklärt. »Aber er sendet seine herzlichsten Segenswünsche.« Ihr Vater hatte genickt, verständnisvoll und furchtbar enttäuscht.
»Und bei euch?«, fragte Dorothea Rosalie. »Hat sich etwas Neues wegen der Knochen ergeben?« Genau wie Rosalie stellte sie die Frage mehr aus Höflichkeit als aus wirklichem Interesse, und Rosalie schien das zu spüren. Sie musterte sie einen Moment lang aus leicht zusammengekniffenen Augen.
»Hast du es nicht gelesen? Sie haben in der Zeitung über den Fund geschrieben, Fuhlrott war äußerst erbost darüber.«
Bei den Leders wurden keine Zeitungen gelesen, aber darauf ging Dorothea jetzt nicht ein. »Was haben sie denn berichtet?«
»Dass die Schädeluntersuchung eindeutig ergeben habe, dass das Wesen dem Geschlecht der Flachköpfe angehört, einer frühen Rasse, die heute noch im amerikanischen Westen zu finden ist. Und dass man sich nicht sicher sei, ob es einem Urvolk zuzurechnen ist oder Attilas Hunnenhorden.«
Oder auch einem kürzlich verstorbenen Landstreicher, dachte Dorothea. »Woher wusste die Zeitung denn von den Knochenfunden?«, fragte sie laut.
»Das fragt Fuhlrott sich auch. Vermutlich war es einer aus dem Naturwissenschaftlichen Verein, der gehört hat, wie sich Fuhlrott mit meinem Vater über die Sache unterhalten hat. In jedem Fall ist der Doktor ganz außer sich über das unwissenschaftliche Gerede, das die Veröffentlichung provoziert hat. Außerdem haben ihn zwei Professoren aus Bonn angeschrieben, die ihn bedrängen, ihnen die Gebeine zur Begutachtung zu überlassen.«
»Aha«, sagte Dorothea. Sollte dieser Fuhlrott die Knochen doch nach Bonn schicken, dann wären sie zumindest weg und Rosalie hätte endlich wieder Sinn für etwas anderes.
»Und dieser Apotheker«, fragte sie dann, um dem Gespräch eine neue Wendung zu geben. »Was hält er denn von der Angelegenheit?«
Rosalie verschränkte die Arme vor der Brust, als wäre ihr kalt. »Woher sollte ich wissen, was er denkt?«, fragte sie und klang plötzlich verärgert.
Dorothea zuckte mit den Schultern, dann begannen die Glocken der Laurentiuskirche zu schlagen. »Ich muss los«, sagte sie.
Mittags erzählte sie Kirschbaum von den Gebeinen. Im Grunde fing sie nur deshalb damit an, weil sie nicht wusste, worüber sie sonst mit ihm reden sollte. Seit sie die weinende Frau gesehen hatte, fühlte sie sich ihm fremd. Er ließ seine Gabel sinken und hörte ihr aufmerksam zu, wie er es immer tat, wenn sie etwas erzählte.
»Ich glaube, ich kann mich an die Notiz in der Zeitung erinnern«, sagte er schließlich. »Fossile Knochen, das wäre in der Tat bemerkenswert.«
»Ich glaube auch, dass es einer von Attilas Hunnen war oder ein Mensch aus einer noch späteren Zeit«, sagte Dorothea.
»Warum glauben Sie das?«, fragte er erstaunt.
»Weil ich an die Worte der Bibel glaube«, gab sie ebenso erstaunt zurück. Die Schöpfungsgeschichte aus dem Ersten Buch Mose musste er doch kennen, das Alte Testament galt schließlich auch für die Juden.
»Sicher glauben Sie daran«, nickte er. Dann stach er ein Stück Kartoffel auf seine Gabel und führte es zum Mund, aber auf halbem Weg ließ er die Gabel wieder sinken und sah sie an. »Aber wenn das eine stimmt, dann muss das andere doch nicht falsch sein.«
»Wie meinen Sie das?«
Er strich die Kartoffel wieder von der Gabel und legte das Besteck neben den Teller. »Sehen Sie«, sagte er. »Die Bibel ist von Menschen geschrieben worden. Von besonderen Menschen, Auserwählten ohne Zweifel, aber gleichwohl von Menschen.«
Sie nickte.
»So haben sie das, was Gott ihnen offenbarte, mit Menschenworten beschrieben. Sie haben die göttliche Wahrheit für unseren kleinen Menschenverstand begreiflich gemacht.«
Sie nickte wieder, unsicher, worauf er hinauswollte.
»Aber Gott, der sich hinter ihren Berichten verbirgt, ist groß und mächtig und unbegreiflich. Verstehen Sie, es kommt nicht darauf an, ob er die Welt in sechs Tagen erschaffen hat oder in zwei Wochen oder in Jahrhunderten. Es ist nicht wichtig, ob er zuerst die Vögel oder die Fische ins Leben gerufen hat. Entscheidend ist allein, dass er es getan hat. Ob Sie glauben, dass er es getan hat. Das allein zählt.«
Es war die längste Rede, die sie je von ihm