Das Medaillon. Gina Mayer
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Eine Weile starrten sie alle schweigend darauf, als erwarteten sie, dass sich die einzelnen Teile wie durch Zauberhand zusammenfügten und zum Leben erwachten.
Was sind das für Knochen, dachte Rosalie und Fuhlrott antwortete ihr, obwohl sie die Frage gar nicht laut ausgesprochen hatte.
»Ich glaube, diese Gebeine sind sehr alt«, sagte Fuhlrott. Seine Stimme, die sonst eher spöttisch klang, hatte mit einem Mal etwas sehr Ernstes und Ehrfurchtsvolles. »Ich habe den ganzen Tag darauf verwandt, sie zu untersuchen, und ich bin überzeugt davon, dass sie ...«, er atmete tief ein und dann wieder aus und plötzlich schien er unsicher. Seine Augen wanderten von den Skelettteilen zu Kuhn und wieder zurück. »Sie sind sehr alt«, wiederholte er.
»Wie alt«, fragte Kuhn leise. »Was meinen Sie?«
Jetzt blickten sie beide Fuhlrott an und Rosalie sah, dass kleine Schweißperlen auf seiner Stirn standen.
»Fossil«, sagte er.
»Das wäre in der Tat ...«, begann Kuhn und dann verstummte auch er wieder.
»Der Lehm, in dem die Gebeine gelegen haben, ist alles entscheidend für die Altersbestimmung«, sagte Fuhlrott schließlich und deutete auf die bräunlichen, trockenen Erdreste, die in den Vertiefungen der Knochen und an den Kanten der Gelenke hingen. »Man muss diese Lehmreste mit den Resten an dem Bärenzahn vergleichen, den ich vor einigen Monaten erhalten habe. Wenn die Sedimente miteinander übereinstimmen, wenn eine Probe zur anderen passt, dann können wir davon ausgehen, dass beide Individuen, Mensch und Höhlenbär, zur gleichen Zeit existiert haben.«
»Das bedeutet, dass es menschliche Individuen in der Diluvialperiode gegeben hat. Aber Cuvier behauptet das Gegenteil«, meinte Kuhn.
Die Diluvialperiode, das wusste Rosalie, war die Zeit der Sintflut, und die Wissenschaftler gingen davon aus, dass es vor und während dieser Zeit noch kein menschliches Leben gegeben hatte – wobei sie sich immer fragte, was es dann mit Adam und Eva, Kain und Abel und all den anderen Personen auf sich hatte, von denen die Bibel berichtete und die doch eindeutig vor der Sintflut gelebt hatten. Vielleicht war die Anzahl der Menschen so gering gewesen, dass sie im fossilen Sinne nicht zählten. Oder vielleicht waren die Wissenschaftler der Ansicht, ohne dass sie es offen aussprachen, dass auch die biblischen Berichte von der Erschaffung der Welt und von der Vertreibung aus dem Paradies Sinnbilder waren, so wie ihr Vater die Sintflut als Parabel betrachtete.
»Man muss die Gebeine zuerst einmal genau untersuchen und vermessen, bevor irgendwelche Schlüsse gezogen werden können«, sagte Fuhlrott ausweichend.
Kuhn betrachtete die Knochenteile auf dem Tisch, ohne etwas zu entgegnen, mit schief gelegtem Kopf.
»Die Arme«, meinte er nach einer Weile zusammenhanglos. »Ganz erstaunlich. Der rechte Oberarmknochen ist erheblich stärker als der linke.«
»Das ist wahr«, stimmte ihm Fuhlrott zu. »Also handelt es sich am Ende nicht nur um ein Individuum, sondern um zwei verschiedene? Vielleicht Mann und Weib?«
»Vielleicht.« Kuhn nahm den linken Knochen auf, dann verfiel er erneut in ein ausgedehntes Schweigen, während seine Finger wieder und wieder über das untere Ende des Knochens tasteten. »Unter Umständen aber auch nicht.«
»Wie bitte?«, fragte Fuhlrott.
»Meiner Meinung nach könnte es sich um eine Verletzung handeln«, erklärte Kuhn. »Das Gelenk ist beschädigt. Sehen Sie.« Er nahm auch die dazugehörige Elle auf und steckte das obere Ende in das Ellenbogengelenk des Oberarmknochens, dann hebelte er den Unterarm mehrmals auf und ab, die Bewegung war zackig und unregelmäßig. Es sah aus, als winkte der Skelettarm ihnen zu. »Sehen Sie?«, sagte er noch einmal und Fuhlrott nickte. »Wenn das Individuum seinen Arm nicht richtig einsetzen konnte, ist möglicherweise der Muskel verkümmert. Das wiederum würde die geringere Knochenmasse erklären.«
»Ich habe die Beschädigung am Gelenk wohl bemerkt«, meinte Fuhlrott. »Aber vielleicht ist sie ja auch der groben Behandlung durch die Steinbrucharbeiter zuzuschreiben. Die Männer haben die Gebeine mit Spitzhacken aus dem Lehm geschlagen. Wir sollten das Relikt genauer untersuchen. Ein Brennglas wäre äußerst nützlich.«
Nun sahen beide Männer Rosalie an, die einen Moment lang verständnislos zurückstarrte, bis sie begriff, was man von ihr erwartete. »In der Praxis.« Ihr Vater lächelte ihr aufmunternd zu.
Sie ging die Stufen hinunter, zuerst schnell, aber dann wurde sie mit jedem Schritt langsamer und gleichzeitig wütender. Es ist immer dasselbe, dachte sie, sie beachten mich nicht, es ist, als ob ich gar nicht da wäre. Aber wenn es etwas zu besorgen gibt, wenn ein Bierkrug geholt werden soll, ein Buch oder ein Vergrößerungsglas, dann erinnern sie sich an mich, dann bin ich gerade recht.
Sie legte die Lupe mit großem Nachdruck auf den Tisch, das Geräusch war so laut, dass die beiden Männer ihr Gespräch unterbrachen und sie irritiert ansahen.
»Das Brennglas. Hier ist es.«
»Danke, mein Liebes«, sagte ihr Vater, während er die Lupe aufnahm und an Fuhlrott weiterreichte, dann beugten sie sich über die braunen Knochen, Seite an Seite, Kopf an Kopf, und hatten sie schon wieder vergessen.
»Gute Nacht«, sagte Rosalie.
Die alte Friedel zog die kleine Holzkiste unten aus der Kaffeemühle, schüttete das Pulver in die Kanne und goss kochendes Wasser darüber. Augenblicklich erfüllte Kaffeeduft die Küche, aromatisch und gleichzeitig ein wenig bitter. Rosalie schnupperte lächelnd, aber dann fiel ihr Blick auf die Fliesen über dem Herd, deren ehemals weiße Oberfläche gelblich geworden war, verziert von Ornamenten aus Fett und Fliegendreck, und sie verzog das Gesicht. Friedels Augen waren nicht die besten und beim Putzen war sie nicht die Gründlichste. Rosalie tat sich schwer damit, die alte Dienstmagd zurechtzuweisen. Gut, dass ihre Mutter nicht mehr erleben musste, was für eine erbärmliche Hausfrau sie geworden war. Aber vielleicht war sie ja selbst nicht ordentlicher gewesen, Rosalie hatte sie ja nie kennengelernt.
Sie hörte ihren Vater aus seinem Zimmer kommen, seine schlurfenden Schritte im Flur. Dann stand er im Türrahmen und sie überlegte, ob sie ihn einfach ignorieren sollte, wie Fuhlrott sie immer ignorierte, aber stattdessen siegte ihre Neugier. »Was habt ihr herausgefunden gestern Nacht?«, erkundigte sie sich, als er am Tisch Platz genommen hatte, die Augen hinter den Brillengläsern rot und geschwollen vom Schlafmangel. »Ist es nun ein Urmensch oder nicht?«
Sofort verschwand die Müdigkeit aus seinem Gesicht, er wog den Kopf hin und her und lächelte dabei. »Es ist noch zu früh, ein abschließendes Urteil abzugeben, und man wird andere Experten, andere Wissenschaftler hinzuziehen müssen, das ist ganz außer Frage, aber nach unseren Untersuchungen deutet alles darauf hin, dass es sich um ein menschliches Individuum aus dem Ante-Diluvium handelt.« Er fuhr sich mit den Zeigefingern hinter den Brillengläsern über die Augen. »Fuhlrott will die Entdeckung im Verein vorstellen, ehe er sich damit an die Öffentlichkeit wagt.« Der Verein, das war der Naturwissenschaftliche Verein für Elberfeld und Barmen, den Fuhlrott vor ein paar Jahren gegründet hatte. Jeden Dienstag traf man sich, um Fragen der Botanik, Geologie und Archäologie zu diskutieren.
»Aber wenn das stimmt, das wäre ... unglaublich«, sagte Rosalie.
»Es