Schlafes Bruder. Robert Schneider

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Schlafes Bruder - Robert Schneider Reclam Taschenbuch

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hinfort jede seelsorgliche Entscheidung mit dem Pfarrer von Götzberg abgesprochen werden mußte. Zwar verteidigte sich der Kurat mit beeindruckendem rednerischen Talent – man dürfe doch um Dreifaltigkeitswillen nicht jedes Wort bar nehmen, das ein Priester von der Kanzel predige –, aber es nützte ihm nichts mehr. Der Kurat verließ Eschberg drei Wochen nach jenem Sonntag, der als sogenannter Schwefelsonntag in das Angedenken eingegangen ist. Zwei Zeilen auf der Tür seines Widums deuteten darauf, daß er nach Hohenberg gewandert, die längst überfällige Sommerfrische anzutreten. Acht Monate ermangelte den Eschbergern jede seelsorgliche Pflege. Dann kehrte der Kurat unerwartet zurück. Er trug das feste Ansinnen, seinen Schäfchen zukünftig als ein weiser Hirte vorzustehen. Leider blieb es bei dem Ansinnen.

      Das alles geschah drei Jahre vor der Geburt des Johannes Elias. Ein Leser, der uns zwischenzeitlich bis an diesen Punkt gefolgt ist, mag sich die Frage vorlegen, weshalb wir uns so ausführlich über den hitzigen Kuraten verbreiten und nicht endlich die Erzählung auf jenes sonderliche Kind hinführen. Er möge sich diese Frage bewahren.

      Zwei Wochen nach der Geburt des Kindes fand im Kirchlein von Eschberg – das nun ob seiner erzenen, zweifach gefütterten, eisenverkeilten und zwölfangligen Flügeltüren bestaunt wurde – eine Doppeltaufe statt. Getauft wurden zwei Knaben aus dem Geschlecht der Alder, das seit Jahrzehnten unter sich verfeindet war. Der eine – unser Kind – wurde auf den Namen Johannes Elias, der andere, welcher fünf Tage später geboren, auf Peter Elias getauft. Dem Peter Elias half eine mit Wägerin bezeichnete Hebamme aus Altberg zur Welt. Man mag bemerken, daß der Name Elias mit einer gewissen Dringlichkeit wiederkehrt. Das hat folgende Bewandtnis:

      Kurat Elias Benzer begriff sich seit jenem pfingstlichen Damaskus-Erlebnis nicht mehr bloß als Hirte, sondern als Vater seiner Eschberger Christenkinder. Freilich muß er den rein spirituellen Gehalt des Wortes Vater mit dem fleischlichen durcheinandergebracht haben, denn in Eschberg gab es in der Folgezeit etliche braunschopfige Kinder, welche, wie es hieß, dem hochwürdigen Herrn Kurat wie aus der Form gestürzt waren. Der Kurat besaß überdies einen fast eitel übertriebenen Hang zur Unsterblichkeit. Er schien zu wissen, daß selbst die zündendsten Worte schnell verlöschen, ein Name aber von weit längerer Dauer ist. So stiftete er das eigentümliche Brauchtum, alle männlichen Ankömmlinge im Zweitnamen Elias zu taufen.

      Die Taufhandlung geschah im engsten Familienkreis. Die Alder des Johannes Elias saßen auf der Epistel-, die des Peter Elias auf der Evangelienseite. Der Kurat sprach ein Wort, worin er die Kraft des Wassers mit der Kraft des Feuers verglich. Das Wort währte lang, und es mochte fast scheinen, als trage er eine gewisse Scheu vor dem Taufakt selbst. Wie er endlich den Chrisam auf die krebsroten Stirnen der Knaben zeichnete, fing ihm die Hand so heftig zu zittern an, daß er innehalten mußte, wollte er den Würmlein nicht Weh antun. Da verhing sich der Blick des Kuraten ungewollt im Antlitz der Seffin, und beide erröteten im selbigen Moment auf das Allerpeinlichste. Zum Glück intonierte die Orgel den Taufchoral und zum Glück fing Johannes Elias plötzlich an zu schreien. Er jubilierte, denn er vernahm zum ersten Mal in seinem Leben die Klänge einer Orgel. Er jubilierte über die Entdeckung der Musik.

      Seff jedoch, sein Vater, saß eingesunken in der Kirchenbank, den Blick tief in die Knie gebohrt. Als nämlich der Säugling zu schreien angefangen hatte, war wieder dieser Frost über Seff gekommen. Dieser unheimliche Frost, der ihm vom Nacken über den Rücken zog und vor zum Bauch bis hinunter in die Hoden. »Gottverreckt mit dem Bub ist etwas falsch! Die Stimm’!«, dachte Seff und preßte die Ohren zu, daß ihm die Adern aus den Händen quollen.

      Peter Elias aber, das Kind des Nulf Alder, schrie nicht. Wir meinen darin bereits einen vorgeformten Wesenszug seines späteren Charakters zu erblicken, denn Peter Elias hat nie geschrien und geflennt. Nur einmal, und davon wird später noch ausführlich die Rede sein.

      Drei Tage darauf kam der Kurat Elias Benzer auf grausige Weise zu Tode. Er war hinaufgestiegen in die Eschberger Wälder bis hinauf zum Plateau, das Petrifels genannt wird. Er habe, mutmaßte man, frühen Holder pflücken wollen, ein fahles Bastkörbchen wurde in seiner Nähe gefunden. Jedenfalls muß er elendiglich über den Felsen gestürzt sein, denn man fand seinen Leib völlig entstellt im Geröll liegen, die Oberschenkel bis zum Knie in den Rumpf getrieben. Der weiße bare Knochen des linken Oberschenkels stand eine Elle weit ab.

      Das Gerücht des Selbstmords hielt sich hartnäckig. Die Taufmatrik des Seffschen Knaben zeigt eine zitternde, nahezu unleserliche Handschrift, während die Matrik des anderen mit der gewohnt überschwenglichen Feder geführt ist, womit allein das und mehr nicht gesagt ist.

      Das Wunder seines Hörens

      Den ganzen Nachmittag schwappte der Nebel vom Rheintalischen herauf und herein in den Weiler Hof, wo das Anwesen des Seff Alder lag. Der Nebel gefror in den Wäldern, zog eisige Fäden von den Zweigen und beschlug die Rinde der Tannen südseitig. An diesem Nachmittag lagen sich Mond und Sonne gegenüber. Der Mond eine zerbrochene Hostie, die Sonne die Wange der Mutter. Das Kind stand auf dem Schemel am Fenster des Bubengadens, das die Seffin jetzt doppelt verriegelte, indem sie zwischen Griff und Stock ein Holzscheit sperrte. Elias stand und stierte hinab zum Waldrand, dahinter die Emmer floß. Sein Gemüt wurde ihm elend. Er müsse hinunter.

      In der Nacht erwachte das Kind vom bloßen Klang der niedergehenden Schneeflocken. Irr vor Freude sprang es zum Fenster, schob es auf und blieb dort unersättlich lauschend bis zum Morgengrauen. In jener Zeit schlief sein Bruder Fritz schon nicht mehr bei ihm. Die Eltern hatten den Fritz in ihre Kammer genommen, ihn vor dem verwunschenen Kind zu schützen. Als am Morgen die Seffin das Kind entdeckte, hatte es eine schweißglühende Stirn, und in der Folge lag es zehn Tage hochfiebrig zu Bett, jedoch von einer unerklärlichen Fröhlichkeit, denn es sang den halben Tag alle Lieder der Kirche im Jahreskreis.

      Damals verstand das Kind wenig. Es begriff nicht, weshalb es schweigen mußte, wenn ein Fremder ins Haus trat, wo doch der Bruder immer dabei sein durfte. Begriff nicht, weshalb die Mutter nicht bei ihm wachen wollte, bis daß jener herrliche Klang der Schneeflocken wiederkäme. Begriff auch nicht, weshalb es ihre Ohrläppchen nicht greifen durfte, wenn es einschlafen wollte. Als sie ihm sogar das Singen verbieten wollte, begann das Kind so herzzerreißend zu flennen, daß sie schließlich doch einwilligte und es ihm wenigstens zur Nachtzeit erlaubte.

      An dieser Stelle müssen wir das Geheimnis dieses Kindes eröffnen, weil das sonderbare Verhalten der Seffin sonst unerklärlich bliebe. Elias hatte die gläserne Stimme, das Wort stammte vom Onkel Oskar Alder, dem Organisten und Lehrer von Eschberg. Das Phänomen dieser eigentümlichen Stimme läßt sich medizinisch nicht erhellen, es rührt von Geburt her. Wenn das Kind zu reden anhob, tönte aus dem Mund ein einziges, hohes Pfeifen. Die Stimme verfügte über keine eigentliche Sprechmelodie, sie modulierte nicht, sondern pfiff als ewig gehaltener Ton. Dieser Umstand hatte bei der Taufe den Seff frösteln gemacht, denn er wähnte damals den Makel endgültig geworden. Er verlor darüber kein einziges Wort, wie sein Mund überhaupt wenig Worte verlor.

      An diesem Nachmittag, an welchem sich Sonne und Mond gegenüberlagen, stahl sich der fünfjährige Elias aus dem Bubengaden. Etwas rief. Er mußte hinunter.

      Niemand sorgte sich um Elias. Man sorgte sich in Eschberg überhaupt nicht um seine Kinder. Als bei einem fürchterlichen Wetterschlag ein Aldersches im braun stürzenden Wasser der Emmer ertrunken war, schlich sich die Mutter mit den Worten aus der Sache, daß bisher noch jedes den Weg von selbst heimgefunden, und daß halt der Herrgott dem armen Göblein die Stunde aufgesetzt habe. Einige Tage nach jenem Unwetter begann Seff das Schwemmholz der Emmer auszurichten. Dieses Recht stand den Bauern seit Jahrhunderten an. Was einer an Schwemmholz ausrichten konnte, gehörte ihm, war Freiholz. Das Ausrichten des Holzes war aber stetiger Anlaß zu Streitereien und blutigen Händeln, denn es mochte durchaus geschehen, daß mutwillig eine fette Tanne vom Waldstück des Nachbarn mitfiel und hartnäckig als Schwemmholz ausgegeben wurde.

      Anläßlich

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