Schlafes Bruder. Robert Schneider
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Das bewog eine Handvoll Eschberger Kinder – aufgewühlt durch die geheimnisvollen Mutmaßungen der Alten – nach der Christenlehre einmal zum verwunschenen Hof zu schleichen. Das Fenster des Bubengadens hatte man schon früher ausfindig gemacht. Dorthin zogen sie nun und verhöhnten den Elias ob seiner Augen, gelb wie Kuhseiche. Er solle sich doch am Fenster zeigen und ihnen das Kunststück seiner Stimme vorführen. Elias hatte ihr Kreischen schon vernommen, als sie vom Kurateihaus herüber tänzelten. Er zog den Laubsack ins Gesicht, wollte schweigend warten, bis daß der Spuk vorüber wäre. So sehr er die Hände gegen die Ohren stemmte, es half nicht. Als die Beschimpfungen nicht enden wollten und eines ihn laut Gelbteufel schalt, hielt es ihn nicht mehr. Er sprang ans Fenster, riß es auf und stieß einen derart brüllenden Schrei hinab auf die Köpfe, daß auf der Stelle alles in heulender Angst davonstob. Noch tagelang flennten die Kinder davon, daß ihnen der Gelbseich wahrhaftig erschienen sei.
Ein Kind jedoch blieb ruhig unterm Fenster stehen. Es hieß Peter Elias und war der Sohn des Nulf Alder. Wir sind ihm schon begegnet, denn es wurde mit unserem Elias getauft. Peter stand und rührte sich nicht mehr von der Stelle. Nicht, weil er unter Schock stand, keineswegs. Peter blieb aus einer plötzlich erwachten kalten Faszination an dem so Andersgearteten. Und er hörte, wie der da oben in ein lautes Weinen ausbrach. So herzzerreißend weinte Elias in den Frühlingsabend hinaus, daß die jungen Bündtgräser traurig niederwogten und das Rauschen vom nahen Wald herüberdrang wie ein Schluchzen. Aber Peter empfand keine Rührung. Er stand mit offenem Mund, und seine Augen stachen kalt in den da oben. Von diesem Tag an suchte Peter die Freundschaft des Elias zu gewinnen. Anfänglich stand er jeden Abend unterm Gaden. Dann kam er seltener, aber mit einer beharrlichen Beständigkeit. Er brauchte nicht zu pfeifen, sich nicht durch Käuzchenrufe bemerkbar zu machen. Elias erwartete ihn.
Wir dürfen behaupten, daß Peter der einzige Mensch im Leben des Elias Alder gewesen ist, der das Genie dieses Menschen erkannte. Er ahnte, daß dem Elias Großartiges gegeben war. Und weil er diese Ahnung sein Lebtag nicht mehr loswerden konnte, trachtete er, den Elias niederzuhalten. Und Elias gehorchte dem Freund fast willenlos. Gehorchte aus naiver Dankbarkeit dafür, daß ihn ein Mensch in den bittersten Stunden seines Lebens nicht im Stich gelassen hatte. Elias liebte den Peter.
Zwischenzeitlich unterließ die Seffin alles, was einer günstigen Entwicklung ihres frühreifen Jungen hätte förderlich sein können. Sie sprach nicht mit ihm, stellte die Suppe vor die Gadentür, wie man einer Katze die Milch hinstellt. Anfänglich vermied sie jede Berührung aus Angst, sich am Gelbfieber seiner Augen anzustecken. Zärtlichkeit, ein solches oder ähnlich lautendes Wort, war ihr und den meisten Eschberger Weibern unbekannt. Auch trug sie immer weniger Sorge um seine Reinlichkeit, weshalb es schließlich dahin kam, daß Elias verdreckte und verlauste. Üblicherweise wusch sie ihre Kinder samstäglich, und ihr Traum als junges Mädchen war es gewesen, die Kleinen dereinst mit den glanzigsten Näschen und saubersten Kräglein dem Kirchenvolk zu präsentieren. So etwas auch nur geträumt zu haben, stellte sie jetzt energisch in Abrede. Die Seffin ließ sich gehen. Sie verrohte, und daß ihre Küche so ungewöhnlich sauber gewesen sein soll, stimmte natürlich mit keinem Wort.
Einmal noch schöpfte sie Hoffnung, raffte sich auf aus ihrer lebensmüden Apathie und sang wieder die Lieder ihrer Mädchenzeit. Die Hoffnung währte nur einige Tage. Geschürt hatte sie die Haintzin, des blinden Mesmers Weib. Die Haintzin riet ihr, es beim Jungen mit verschiedentlichen Abreibungen, Aufgüssen und Umschlägen zu probieren. Die Idee sei ihr gekommen, schnaufte sie, wie sie nichtsdenkend in den grünen Maimorgen geblinzelt habe. Grün, überall Grün, habe sie gedacht. Es müsse doch möglich sein, etwas von diesem Grün dem Elias zurückzugeben, und sie wisse auch schon wie.
Man versuchte es zuerst mit den Blättern des Löwenzahns, befeuchtete sie mit Speuz und klatschte sie dann auf die geschlossenen Lider des Kindes. Elias durfte sich den ganzen Nachmittag nicht ein Rückchen von der Stelle rühren. Am Abend löste man die erlahmten Blätter in der Erwartung, ein herrliches Löwenzahngrün in den Pupillen vorzufinden. Allein die Kerze leuchtete neidisch hinein in ein Gelb, das ihr eigenes Gelb verblassen machte.
Am nächsten Tag ging man früh ans Werk, streifte den halben Vormittag über die Bündten, sammelte Schürzen von Kräutern und überhaupt alles, das sich durch ein veritables Grün auszeichnete. Gar die Jährlinge der Rottannen, die man sonst zu Honig verkochte, brockten die emsigen Weiber. Die Haintzin riet, es mit den Jährlingen zuerst zu versuchen. Das führte allerdings zu dem Ergebnis, daß, nachdem die Trieblinge in siedendem Wasser gesotten und man das Wasser auf die Lider geträufelt hatte, der arme Elias schwere Verbrühungen davontrug. Kaum war der Elende genesen, ersann die Haintzin eine neue Methode, das Grün der Pupillen herbeizuführen.
Die Idee sei ihr gekommen, wie sie nichtsdenkend das Abendgras für ihr Vieh gesenst habe. Da es sich um ein innerliches Siechtum handle, könne man – Mein Gott und mein Herr, daß ihr das erst jetzt aufgehe! – selbiges auch nur innerlich behandeln. Also nahm sie einen Suppenteller und rieb etwas Birken- und Weißbuchenrinde hinein, vermengte die Rinde mit Faltrianblättern, Schmerwurz, Seidelbast und Türkenbund und träufelte zwei Löffel Erstmilch einer frischgekalbten Kuh hinein. Das Ergebnis führte diesmal zu einem nachtlangen Magenkrampf, und als sich die Weiber anschickten, es mit einer abermals neuen Kur zu versuchen, schmetterte sie der Bub mit einem lauten, bösen Röhren aus dem Gaden. Es blieb der Haintzin versagt, das melancholische Regengrün seiner Augen wieder zum Leuchten zu bringen und sie kehrte von da an nur noch selten bei ihrer Freundin ein. Es gebe, entschuldigte sie sich, neuerdings so viel Arbeit und eine Kalberei nach der anderen auf ihrem Hof.
Zwei Winter lebte Elias im Gaden eingesperrt. Hie und da kam Peter, stand schweigend unterm Fenster, stierte hinauf und ging wieder. Nulf, der Vater, Seffs Bruder und Todfeind, vermochte ihm diese Besuche nicht auszutreiben, nicht einmal durch blutige Prügel. Peter kam, schwieg und ging wieder. Die Jungen sprachen kaum drei Worte miteinander. Aber die eigenwillige Treue des Peter bewirkte, daß Elias Zutrauen zu ihm fand.
Der Weiße Sonntag kam. Elias hätte schon vor einem Jahr kommunizieren sollen, doch hatte die Mutter beim Kuraten eine Verschiebung erwirkt. Der Junge sei ganz unerwartet an einer schmerzvollen Gliedersucht erkrankt, log die Seffin, und derzeit plage ihn eine misteriose Schmalbrüstigkeit, gepaart mit fürchterlichem Kopfgrimmen. Man solle die Kommunion um abermals ein Jahr verschieben. Das mochte der Kurat Friedolin Beuerlein nun nicht mehr glauben und betrat festen Entschlusses den Hof des Seff Alder. Kurat Beuerlein war ein gutmütiger, dürrer und sehr langnasiger Herr. Als nach ruhigem Zureden sich die Eheleute noch immer nicht bereitfanden, den Elias kommunizieren zu lassen, tat der Kurat einige für ihn ungewohnt harte Worte und fing an, den viehischen Starrsinn der Eltern aufs heftigste zu tadeln. Seff und sein Weib blieben stur. Erst als der Kurat alle nur erdenklichen Höllenqualen für eine derartige Todsünde ins Treffen führte, willigte Seff ein. Sein Weib nicht. Es sei ihr gleichviel, bockte sie, wenn sie in der Hölle auf einer Lanze aufgestochen dahinschmore. Der Bub gehe nicht zur Kommunion.
Ohne den Hergang der Kommunion im einzelnen auszubreiten (das Gaffen und Halsgerenke, das jähe Verstummen des Kirchenvolks, als das Kind im Baß zu singen anhob), wollen wir dennoch festhalten, daß kein Kommunikant so fromm und lauter das Jesulein in sein Herz kämmerchen treten ließ als unser Elias Alder. Beim anschließenden Mahl im Gasthaus zum Waidmann war der Bub aber schon wieder verschwunden, und für die Zukunft hielt es die Seffin so, daß er zwar die Messe besuchen, jedoch die Kirche erst beim zweiten Kyrie betreten und noch vor dem Segen des Kuraten wieder zu verlassen hatte. Als Platz wies sie ihm die hinterste Bank der Epistelseite, dort, wo die tabakkäuenden Greise ihr Sonntagsnickerchen zu halten geruhten.
Wir richten unsere Augen wieder auf die Mutter unseres Helden, von der wir sagten, daß sie aufgrund ihres abnormen Kindes den Lebensmut verloren hatte. Diese Behauptung soll durch eine Episode untermauert werden, die sich am Festo Trinitatis desselbigen Jahres zutrug.
Am Festo Trinitatis wurde Kirchweih abgehalten, und das Fest endete