Schlafes Bruder. Robert Schneider
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Der Stein rief. Elias mußte hinunter. Er stahl sich die Stiege hinab und durch die Tenne hinaus in den dampfenden Kuhstall. Von dort nahm er den Pfad, den kein Fenster des Hauses zeigte. Trotzdem rannte er das erste Wegstück, rannte so lange, bis er wußte, daß man den Hof nicht mehr ausmachen konnte. Er tat einen Pfiff vor Freude, purzelte und schlug den Weiler hinab zum Bachbett der Emmer. Aber Seff, der im angrenzenden Weiler Mist austrieb, sah ihn. Sah das luftige Pünktchen Mensch im großen Weiß des Feldes. Sah, wie es im Zickzack hinterm Waldrand verschwand. Seff schremmte die Mistgabel in den gefrorenen Boden, trichterte die Hände an den Mund, wollte dem Sohn zujuchzen, ließ aber davon ab. Er wollte das Kind in seiner fröhlichen Einsamkeit nicht stören. Seff blickte glasig auf jenen Waldschatten, dahinter der Bub verschwunden war. Dann nahm er die Gabel wieder zur Hand und stieß sie kraftvoll, ja wütend in den rauchenden Misthaufen. »Gottverreckt mit dem Bub ist etwas falsch!« und die Klatter flog weiter hinab als alle anderen.
Da ging es, das sonderbare Kind, stapfte durch die nebelverfrorene Landschaft. Es wanderte eine halbe Stunde oder mehr, umkletterte geschickt den ersten Wasserfall, dann den zweiten. Auf seiner Wanderung mußte es oft innehalten, weil es sich nicht satt hören konnte am sirrenden Ton der Eisflocken, die allerorten von den Zweigen rieselten. Ausgelassen vor Übermut spitzte Elias die schweren, sperrigen Lederschuhe in den gefrorenen Schnee. Und der Harsch wirbelte in tausend Funken auseinander, wisperte und zirpte in so mannigfaltigen Klängen, wie solches Elias zuvor noch nie gehört hatte. Selbst der wunderliche Klang der Schneeflocken jener Nacht war nichts mehr im Vergleich mit diesem grandiosen Konzert.
Weiter schuhte Elias, immer weiter. Er raffte sein Höschen, zog die Nase hoch und den Filzhut des Vaters tiefer ins Gesicht. Den Hut hatte er einst an sich genommen und wollte ihn nicht mehr wieder herausgeben. In schweren Nächten nahm er ihn dann aus dem Laubsack und roch so lange daran, bis er getröstet war. Er roch den kalten Schweiß, das Haupthaar, den Geruch des Viehs – es war der Stallhut des Vaters.
Je näher Elias zum wasserverschliffenen Stein kam, je unruhiger ging sein Herzschlagen. Es war ihm, als würde allmählich das Geräusch seiner Schritte, sein Atem, das Wispern des Harsches, das Ächzen im Waldholz, das Raunen des Wassers unter dem Eis der Emmer, ja als würde alles um ihn herum anschwellen und immer lauter und mächtiger tönen. Als Elias endlich den Steinvorsprung erklettert hatte, hörte er, daß von seinem Herzen ein Donner ausging. Er muß etwas von dem Kommenden geahnt haben, denn er fing plötzlich an zu singen. Dann geschah das Wunder. An diesem Nachmittag hörte der fünfjährige Elias das Universum tönen.
Weil ihn wieder am Kopf fror, langte er nach dem Hut, ihn noch tiefer ins Gesicht zu ziehen. Davon entstand ein so gewaltiger Knall in den Ohren, daß er verschockt vom Steinvorsprung rutschte und rücklings in den Schnee fiel. Was er als letztes von der Wirklichkeit sah, war ein Büschel blonder, blutiger Haare. Während er stürzte, vervielfachte sich sein Gehör.
Der kleine Körper fing an, sich zu verändern. Jäh traten die Augäpfel aus ihren Höhlen, ja stülpten sich über die Lider und dehnten sich bis unter die Augenbrauen. Und der Flaum seiner Brauen verklebte sich auf der tränenden Netzhaut. Die Pupillen flossen auseinander und quollen über das gesamte Weiß der Iris. Ihre natürliche Farbe, das melancholische Regengrün verschwand, und es trat ein gleißend ekelhaftes Gelb an ihre Stelle. Der Nacken des Kindes versteifte, und sein Hinterkopf bohrte sich schmerzlich in den harten Schnee. Dann bäumte sich das Rückgrat, der Bauch blähte auf, der Nabel wurde hart wie Horn, und Blut sickerte aus der längst verwachsenen Haut des Nabels. Das Gesicht des Kindes aber bot einen derart entsetzlichen Anblick, als lägen alle je gehörten Wehschreie des Menschen und der Kreatur in ihm eingegraben. Die Kiefer traten hervor, die Lippen verkümmerten auf zwei dünne, blutleere Striche. Nach der Reihe fielen dem Kind die Zähne ein, denn das Zahnfleisch schwand, und es ist unerklärlich, weshalb Elias nicht daran erstickt ist. Dann, ungeheuerlich, wurde ihm das Gliedchen stämmig, und das frühe Sperma rann mit Urin und dem Blut des Nabels in einem dünnen Rinnsal warm die Leistenbeugen hinab. Während des ganzen Geschehens verlor das Kind alle Exkremente des Körpers, vom Schweiß bis zum Kot in ungewöhnlich großen Mengen.
Was es dann hörte, war der schwarze Donner, der von seinem Herzen kam. Ein Donner heute, ein Donner morgen. Das will heißen, daß ihm die Empfindung der Zeit abhanden ging. Darum können wir nicht bestimmen, wie lange Elias wirklich im Schnee gelegen hat. Nach menschlichem Ermessen vielleicht einige Minuten, nach göttlichem wohl eine Zeit von Jahren, wie ein merkwürdiger Umstand noch erhellen wird.
Geräusche, Laute, Klänge und Töne taten sich auf, die er bis dahin in dieser Klarheit noch nie gehört hatte. Elias hörte nicht bloß, er sah das Tönen. Sah, wie sich die Luft unaufhörlich verdichtete und wieder dehnte. Sah in die Täler der Klänge und sah in ihre gigantischen Gebirge. Er sah das Summen seines eigenen Bluts, das Knistern der Haarbüschel in den Fäustchen. Und der Atem schnitt die Nasenflügel in derart gellenden Pfiffen, daß sich eine föhnartige Sturmesbö wie ein Säuseln dagegen ausgenommen hätte. Die Säfte des Magens glucksten und klackten schwer ineinander. Es gurrte in den Eingeweiden von einer unbeschreiblichen Vielfalt. Gase dehnten sich, zischten oder knallten auseinander, die Substanz seiner Knochen vibrierte, und selbst das Augenwasser zitterte vom dunklen Schlagen seines Herzens.
Und abermals vervielfältigte sich sein Gehörkreis, explodierte und stülpte sich gleichsam als ein riesenhaftes Ohr über den Flecken, auf dem er lag. Horchte hinunter in hundert Meilen tiefe Landschaften, horchte hinaus in hundert Meilen weite Gegenden. Über die Klangkulisse der eigenen Körpergeräusche zogen mit wachsender Geschwindigkeit um vieles gewaltigere Klangszenarien. Szenarien von ungehörter Pracht und Fürchterlichkeit. Klangwetter, Klangstürme, Klangmeere und Klangwüsten.
Mit einem Mal erkannte Elias in dieser unheimlichen Geräuschmasse das Herzschlagen seines Vaters. Doch das Herz des Vaters schlug so unrhythmisch, so ohne Abstimmung und Gleichklang in sein eigenes, daß Elias, hätte er alle Sinne beisammen gehabt, verzweifelt wäre. Aber Gott in seiner unendlichen Grausamkeit hörte nicht auf zu zeigen.
In Strömen unvorstellbaren Ausmaßes prasselten die Wetter des Klanges und der Geräusche auf die Ohren des Elias nieder. Ein irres Durcheinander von Hunderten von Herzen hub an, ein Splittern von Knochen, ein Singen und Summen vom Blut ungezählter Adern, ein trockenes sprödes Kratzen, wenn sich Lippen schlossen, ein Brechen und Krachen zwischen den Zähnen, ein unglaubliches Getöne vom Schlucken, Gurgeln, Husten, Speuzen, Rotzen und Rülpsen, ein Glucksen von gallertigen Magensäften, ein lautes Platschen von Urin, ein Rauschen von Haupthaar und das noch wildere Rauschen vom Haar der Tierfelle, ein dumpfes Schaben von Textilien auf Menschenhäuten, ein dünnes Singen, wenn Schweißtropfen verdampften, ein Gewetze von Muskeln, ein Geschrei von Blut, wenn Glieder von Tieren und Menschen stämmig wurden. Nicht zu reden vom wahnhaften Chaos der Stimmen und Laute des Menschen und aller Kreatur auf und unter der Erde.
Und tiefer ging sein Ohr, hinein in alles Geschrei, Geschwatze, Gekeife, in alles Reden und Flüstern, Singen und Stöhnen, Grölen und Johlen, Flennen und Schluchzen, Seufzen und Keuchen, Schlürfen und Schmatzen, ja hinein in das plötzliche Schweigen, wo in Wahrheit die Stimmbänder noch vom Klang der eben gesagten Worte