Schlafes Bruder. Robert Schneider

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Schlafes Bruder - Robert Schneider Reclam Taschenbuch

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pittoreskerer Klänge ansichtig.

      Dann das unbeschreibliche Konzert von Geräuschen und Lauten aller Tiere und aller Natur und die nicht enden wollende Zahl der Solisten darin. Das Muhen und Blöken, das Schnauben und Wiehern, das Gerassel von Halfterketten, das Lecken und Zungengewetze an Salzsteinen, das Klatschen der Schwänze, das Grunzen und Rollen, das Furzen und Blähen, das Quieken und Piepsen, das Miauen und das Gebell, das Gackern und Krähen, das Zwitschern und Flügelschlagen, das Nagen und Picken, das Grabschen und Scharren...

      Und er sah noch tiefer und noch weiter. Sah das Getier des Meeres, den Gesang von Delphinen, den gigantischen Wehklang sterbender Wale, die Akkorde riesiger Fischschwärme, das Klicken des Planktons, das Zirbeln, wenn Fische ihren Laich absetzen, sah das Hallen von Wasserfluten, das Zerschellen unterirdischen Gebirgs, das gleißende Gellen der Lavaströme, den Gesang der Gezeiten, die Meeresgischt, das Surren der tausend Zentner Wassers, das die Sonne aufsog, das Raunen, Krachen und Bersten gigantischer Wolkenchöre, den Schall des Lichtes... Was sind Worte!

      Von einem letzten Klang ist zu berichten, einem Klang von so filigraner Gestalt, daß er doch in all dem Rumor des Universums hätte untergehen müssen. Aber der Klang blieb und ging nicht unter. Er drang her von Eschberg. Es war das weiche Herzschlagen eines ungeborenen Kindes, eines Fötus, eines weiblichen Menschen. Was Elias gehört und geschaut hatte, vergaß er, aber den Klang des ungeborenen Herzens nicht mehr. Denn es war das Herzschlagen jenes Menschen, der ihm seit Ewigkeit vorbestimmt war. Es war das Herz seiner Geliebten. Unglaublich ist es, daß Elias diesen Gewaltakt überlebt hat und unglaublich, daß er nicht irrsinnig geworden ist davon.

      Nach menschlichem Ermessen hätte das Kind auf der Stelle ertauben müssen. Es ist drum ungeheuerlich, daß sein Gehör nicht den geringsten Schaden gelitten hat, jedenfalls finden wir keine späteren Anzeichen, die darauf hindeuten möchten. Gott, wie es schien, war noch nicht fertig mit ihm. Gott war noch lange nicht fertig mit ihm.

      Nach dem furchtbaren Hörerlebnis traten die Deformationen am Leib des Kindes zurück. Die Augäpfel schwanden auf ihre ursprüngliche Größe, das Rückgrat glättete sich, die Verkrampfungen der Glieder entspannten. Desgleichen schrumpften die so schrecklich ausgetretenen Kiefer. Aber das gleißende Gelb der Pupillen färbte sich nicht mehr in jenes melancholische Regengrün. Vom Hinterkopf war das Haar in großen Büscheln abgefallen, und die Zähne hatte es allesamt verloren. Der Makel währte aber nicht lang, denn bald zahnte der Mund, und die Zweiten wuchsen dem Kind überfrüh. Neben dem gespenstischen Gelb der Pupillen zeigten sich weitere, nicht minder gespenstische Veränderungen.

      Die gläserne Stimme hatte mutiert. Sie war angeschwollen, hatte an Umfang und Volumen gleichermaßen zugenommen. Das Organ des Kindes hatte sich zu einer volltönigen Baßstimme entwickelt. Diese merkwürdige Stimme erregte im Dorf ein so breites Aufsehen, daß die Eltern vor lauter Scham beschlossen, den Elias im Gaden einzusperren und ihn hinkünftig zu halten wie einen Fallsüchtigen. Eine andere Veränderung zeigte sich darin, daß ihm an den Schläfen, auf der Oberlippe, am Kinn, in den Achselgruben und auf dem Geschlecht ein dünner Haarflaum gewachsen war. Der Körper des Elias Alder hatte pubertiert.

      Unerklärlich bleibt ferner, wie das Kind überhaupt noch heimgefunden hat. Die Haintzin, die an diesem Dezembernachmittag auf ein Schwätzchen in das Haus des Alder Seff gekommen war, sah es zuerst. In der Küche dampfte es vom Grieß, den die Seffin zum Nachtmahl vorkochte. Sie stand beim Herd und störte mit der Kelle den Brei. Ja, auf diesem Buben liege Gottes Fluch, das leuchte ihr von Tag zu Tag klarer. Die Haintzin nickte den klotzigen Kopf und wischte gelangweilt mit ihrer gichtigen Hand den Beschlag von der Fensterscheibe. Zwar habe sie, fuhr die Seffin fort, etwas Unbestimmtes geahnt, als sie das Kind ausgetragen, habe jedoch gemeint, es seien nur Hirngespinste.

      Plötzlich schrie die Haintzin kehlig auf: »Mein Gott und mein Herr! Der nackige Bub, der nackige Bub liegt draußen im Schnee!«

      Die Pfanne schepperte zu Boden, die Tür riß auf, ein Holzschlapfen blieb auf der Schwelle liegen. Die Seffin stolperte über den Schnee hinunter und barg ihr Kind mit entsetzten Armen, drückte es so fest an ihren Körper, daß es kaum mehr zu Atem kam. Sie trug es in die Küche zurück, legte es auf den blanken Holztisch, es dort anzukleiden. Als die beiden Weiber den Elias so daliegen sahen, stieg ihnen die Schamesröte ins Angesicht, denn sie gewahrten, daß sein Gliedchen angeschwollen war. Erschrocken stürzte die Seffin nach dem Waschzuber, zog eine Windel hervor, wandte den Buben eiligst ab vom glasigen Blick der Haintzin, wollte ihn wickeln, aber drückte ihm das Geschlecht so fest vom Bauch weg, daß Elias irr vor Schmerzen aufheulte.

      »Mein Gott und mein Herr! Was ist das für eine Stimm’! Wie das Röhren eines Hirsches!« bekreuzigte sich die Haintzin und hub sich entgeistert davon.

      Freilich, sie verließ den Hof nicht ohne das hochheilige Versprechen, keinem ein Sterbenswörtchen von dem Vorfall zu erzählen, weshalb denn auch am Sonntag jedermann neugierig auf die Alderschen Eheleute schielte. Einige Weiber mochten in Gedanken fast hoffärtig werden, hatten sie ihren Gatten ja nur ein Mongoloides geboren und nicht einen Teufel mit Augen gelb wie Kuhseiche.

      Ein anderes Weib aber, die Nulfin, die im fünften Monat schwanger ging, legte ihr Gebetbüchlein auf den Bauch und tat ein Gelübde. Wenn es ein an Leib und Seele Gesundes würde, schwur sie der Muttergottes, wolle sie an ihrem Altar monatlich einen Blumenstrauß aufstellen, solange sie, Virgina Alder, lebe.

      Die Seffin hat sich später bittere Vorwürfe gemacht, hat sich laut vor ihrem Mann angeklagt, wie es nur geschehen konnte, daß ihr die unzüchtige Gebärde am Körper des Buben nicht schon im Schnee aufgefallen war. So hätte niemand davon erfahren, und das Haar und die Zähne seien ihm ja schnell nachgekommen. Aber es nützte nichts. Elias wurde zum vielbetuschelten Rätsel von Eschberg.

      In den ersten Nächten schliefen Seff und sein Weib nicht im Elterngaden, sondern in der Tenne, droben auf dem Heustock. Den Fritz betteten sie zwischen sich. In dieser Zeit lag die Seffin wach bis in den frühen Morgen, und ihre Gedanken scharten sich immer beengender um das vermeintlich besessene Kind. Als sie ihrem Seff riet, es möchte durchaus eine Pfette vom morschen Dachgebälk zufällig auf den Jungen niederstürzen, oder das Kind könnte unglücklicherweise in der Emmer ertrinken, oder eine läufige Kuh möchte es zu Tode hornen, da schlug Seff ihr die Faust so gewaltig ins gottverreckte Maul, daß die Kinnlade auskegelte. Von da an wurde zwangsläufig nichts mehr über den Jungen geredet, und als die Seffin wieder sprechen konnte, hatte sie den Mut am Leben verloren. Doch sie gab die Hoffnung auf eine Besserung der Zustände nicht auf, wovon im kommenden Kapitel zu erzählen ist.

      Die Gadenzeit

      Nachdem Gott den Elias auf so wunder- wie grausame Weise hörend gemacht hatte, wurde es in dem Jungen still. Allein um den Jungen wurde es nicht still. Darum versteckten die Alderschen Eheleute ihn ängstlich vor dem Zugriff der Öffentlichkeit, kerkerten ihn unter Maulschellen, Ohrfeigen und Stockhieben in seinen Gaden, den er ungefragt nicht mehr verlassen durfte.

      In den sonst stillen Hof des Seff Alder kam Leben. Alle nur erdenklichen Verwandten – das waren nahezu alle Eschberger – befanden auf einmal, es sei endlich wieder an der Zeit, die Lieben im Weiler Hof zu besuchen. So kamen sie unter den hinterfotzigsten Vorwänden ins Haus, zeigten gespieltes Interesse am Gedeih des Viehs, lobten eindringlich den sauberen Stall und daß keine Kuh auf ihrer Klatter liegen müsse, schnupperten angetan an dem so auffallend trockenen Heu, tranken übermäßig vom aufgetischten Most, priesen laut die so ungewöhnlich saubere Küche der Seffin und frugen endlich allesamt nach dem Befinden des lieben und ach so bedauernswerten Kindleins. So hofften sie, den Kretin zu Gesicht zu bekommen, aber Seff und sein Weib antworteten monoton: »Der Gob ist marod, hat Fleckenfieber.«

      Späteren Besuchern fiel auf, daß der würzige Most nicht mehr aufgetischt wurde, und daß der Bub jetzt schon über das gewohnte Maß hinaus

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