Der Duft der Aprikosen. Jutta Mattausch

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Der Duft der Aprikosen - Jutta Mattausch

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      Silbernes Abendlicht hatte sich über das Tal gelegt, die schneebedeckten Spitzen der Bergkette glitzerten in blassem Rosa, als Sonja später durch den Garten lief, um Lobsang zu besuchen, den Eigentümer des Hotels. Sie war mit ihm seit vielen Jahren befreundet, seit die Agentur die Gruppen hier einquartierte. Lobsang wohnte mit seiner Frau und den beiden Kindern im alten Bauernhaus. Der vordere Teil des Grundstücks mit dem Hotel war eingegrenzt durch ein paar Apfelbäume und Weiden, nicht weit dahinter stand das Bauernhaus. Die zwei Hündchen von Lobsang, zerzauste Fellknäuel in Weiß und Hellbraun, tollten mit spitzem Gebell um die Gartenstühle, als sie sich dem Haus näherte. Lobsang stand an der Tür. Er rief nach den Hunden, kam aber, als er Sonja sah, mit offenen Armen auf sie zu. »Willkommen, Sonja. Ich warte seit Stunden auf dich.«

      Sonja zuckte lachend die Schultern. »Du weißt doch – der erste Tag! Was macht die Familie?«

      Amüsiert registrierte Sonja, wie Lobsang nochmals in die Hände klatschte und so lange pfiff, bis die Hündchen endlich nach drinnen flitzten. Das Haus war ganz nach Sonjas Geschmack. Behagliche Lehmbauweise, ein alter Holzboden und Zimmerdecken aus Pappelästen, wie man sie in allen traditionellen Bauten fand.

      »Seit die Mädchen in Chandigarh auf der Schule sind, ist das Leben für Rinchen und mich einsam geworden. Sie ist übrigens heute auf der Geburtstagsparty einer Freundin und lässt dich schön grüßen.« Lobsang führte Sonja ins Wohnzimmer und bot ihr einen der schweren gepolsterten Sessel an. »Nimm dir bitte Kekse«, er deutete zur Kristallschale auf dem Glastisch, »ich hole Tee für uns.«

      »Nein, lass nur, bitte keinen Tee.« Sonja winkte ab.

      »Aber Sonja, kein Alkohol heute. Du weißt doch, nicht am ersten Tag …«, scherzte er, darauf anspielend, dass die beiden schon die eine oder andere Runde zusammen getrunken hatten.

      »Nein, Lobsang, ich meine, gar nichts zu trinken«, erwiderte Sonja lachend, »weder Cola-Whisky noch Tee. Verschieben wir das auf morgen, ich bin wirklich müde. Was macht denn deine Mutter?« Lobsangs Mutter war eine Frau mit Geist, Humor und einer beneidenswerten Alterszufriedenheit. Sie wünschte, ihre eigene Mutter hätte wenigstens eine dieser angenehmen Qualitäten. Nach ihrer Erfahrung verstärkten sich persönliche Merkmale mit den Jahren, im Positiven wie im Negativen. Neue überraschende Eigenschaften kamen eher selten dazu.

      »Du weißt ja, sie geht immer früh zu Bett. Besuche sie doch morgen, sie wartet immer auf dich …« Lobsang unterbrach sich. »Ach, bevor ich es vergesse: Vor ein paar Tagen hat jemand ein Päckchen für dich gebracht. Mutter sagt, der Überbringer wollte wissen, an welchem Tag du kommst. Aber sie wusste es nicht genau. Jedenfalls musste sie ihm versprechen, dir das Päckchen sofort nach deiner Ankunft zu geben.«

      Ratlos schaute Sonja Lobsang an. »Ich erwarte kein Paket. Von wem ist es denn?«

      »Ich habe keine Ahnung, frag Mutter morgen selbst.«

      Das Päckchen lag auf dem Fernsehtisch, in weinroten Stoff eingepackt und mit einer Kordel sorgfältig verzurrt. Nachdem Lobsang es ihr überreicht hatte, verabschiedete sich Sonja alsbald. Auf dem Weg zu ihrem Zimmer maß sie das Bündel ab. Es fühlte sich nach einem schweren Packen Papier an. Wer mochte der ominöse Absender sein? Sie setzte sich aufs Bett, zögerte einen Moment, starrte diese Überraschung auf ihrem Schoß an.

      Dann löste sie die Kordel, faltete den roten Stoff auseinander und schaute auf einen Stapel Blätter, die seitlich gelocht und von einer dicken Schnur zusammengehalten waren. Das Deckblatt zierten in handgeschriebenen Buchstaben nur zwei Worte: »For Sonja«.

      Sonja ließ die Blätter einzeln durch Daumen und Zeigefinger gleiten. Sie waren beidseitig mit blauer Tinte beschrieben, in Englisch, gut lesbar, die Schrift neigte sich leicht nach links. Sonjas Befangenheit wich einer aufgeregten Neugierde. Sie nahm die erste Seite zur Hand und im nächsten Augenblick war ihr klar, dass diese Blätter sie wie ein Orkan aus ihrer Routine werfen würden. Und dass diese Reise garantiert nicht nach Plan verlief.

      Sie schlug die erste Seite auf.

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      Auf der Sommerweide

      Der Sommer war immer meine liebste Jahreszeit. Jene trägen Tage, einer wie der andere. Auch dieser Tag begann zunächst ganz normal.

      Wir waren gemeinsam unterwegs. Wir, das Dreiergespann Tundup, Rigzin und ich, ungefähr acht Jahre alt und unzertrennlich. Als Hirten brachten wir die Jungtiere auf unsere Sommerweide am Fluss.

      An diesem Sommertag führte ich sieben Lämmer, vier Zicklein, zwei Kälber und unsere drei Esel mit mir. Mutter hatte mich am Morgen ermahnt: »Komm nicht zu früh nach Hause, Nunu Norbu, mach dich erst auf den Heimweg, wenn die Sonne hinter den Bergen verschwindet und der Fluss im Schatten liegt.« Als wüsste ich nicht selbst, dass die Tiere bald auf dem Dreschplatz arbeiten und daher viel nahrhaftes Gras und Kräuter fressen sollten!

      Da unser Haus am Rand des Dorfs lag, lief ich erst bei Rigzin vorbei, dann holten wir Tundup am Haus von Onkel Angchuk ab. Tundup war der Sohn des Dorftrommlers, er gehörte zur Sippe der Trommler, der Mon. Seine Familie besaß wie die meisten Mon weder Äcker noch Tiere. Deshalb musste Tundup sich als Hirte bei unserem Onkel verdingen. Als Lohn bekam die Trommlerfamilie ausreichend Gerste und Gemüse. Angchuk war ein großherziger Mensch und dafür respektierte man ihn im Dorf. So trabten wir mit unseren Tieren zwischen weiß getünchten Häusern und über Felder zur Sommerwiese hinüber. Hier würden wir den Tag verbringen.

      Die Sommerweide durchfloss ein imponierender Bach. Kaum vorstellbar, dass im Frühling hier noch ein schmales Rinnsal geplätschert hatte. Aber der Winter war gut gewesen, schneereich, und der mächtige Gletscher oberhalb unseres Dorfs schickte mit der erstarkenden Sonne reichlich Wasser herab. Beiderseits des Bachs war die Wiese übersät von glatt geschliffenen Flusssteinen jeder Größe. Api, meine Großmutter, behauptete, die Flussgötter hätten vor unvorstellbarer Zeit diese Steine von den Bergen herabgerollt. Dabei zog sie das Wort »uuunvorstellbar« in die Länge, um mir eine Vorstellung der gewaltigen Dimension zu geben.

      Von dieser Weide konnten die Tiere praktisch nicht ausbrechen: Nach oben war das Tal begrenzt von Geröllflächen, die in einen senkrecht abfallenden Kessel übergingen. Rechts machte der Fluss ein Durchqueren unmöglich. Kritisch war nur die linke Seite, wo die Weide in faltige Hügelkämme überging. Allerdings kannte ich jede einzelne dieser Bergfalten, hatte meine Tiere oft aus Mulden herausgelockt, in denen besonders saftige Gräser standen. Und ich kannte jede Quelle, denn im Winter, wenn die Bäche gefroren waren, brachte ich die Tiere zum Trinken hierher.

      Ich setzte mich auf meinen Lieblingsstein, ein großer ovaler graugrüner Granit, und überschaute den Horizont. Um uns ragten in einem weiten Kreis wilde scharfgratige Bergspitzen in die Höhe. Die Erdmassen waren vielfarbig geschichtet, bisweilen schräg hochgedrückt, andere warfen sich senkrecht gegen den Himmel. Zwischen den massiven Felsen quollen feiner Sand und spitzes Geröll hervor, die sich talwärts zu breitgefächerten losen Flächen ausweiteten. Lediglich auf den Bergspitzen stand noch unberührt der massive Granit.

      Vor mir erstreckte sich mein Dorf, das mit etwa siebzig Familien einer der größten Orte im Industal war. Häuser und Stallungen glichen braungrauen Würfeln in unterschiedlicher Größe, eingebettet in üppig bewachsene Gärten, die jetzt voller Stockrosen und Sonnenblumen standen. In den Kronen der Apfel- und Aprikosenbäume leuchteten die reifen Früchte. Ich ärgerte mich kurz, dass ich nicht ein paar Aprikosen mitgebracht hatte, ließ dann meinen Blick weiter bis zum oberen Rand der Wiese wandern. Dort säumten hochgewachsene schlanke

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